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Politik: Jeder kämpft für sich allein

Der ehemalige Wirtschaftsminister Dervis gibt der türkischen Reformpartei einen Korb – und stärkt so den Islamisten Erdogan

Von Thomas Seibert, Istanbul

Knapp drei Monate vor den vorgezogenen Parlamentswahlen in der Türkei haben die Reformkräfte im Land einen schweren Rückschlag erlitten. Ex-Wirtschaftsminister Kemal Dervis lehnte es am Donnerstag ab, der Reformpartei „Neue Türkei“ beizutreten. Damit ist die in der türkischen Öffentlichkeit mit vielen Vorschusslorbeeren versehene „Troika“ aus Dervis, dem ehemaligen Außenminister Ismail Cem und Ex-Vizepremier Hüsamettin Özkan zerbrochen. Zudem ist Dervis mit dem Versuch gescheitert, die zersplitterten sozialdemokratischen Kräfte in der Türkei zu einer breiten Allianz zu einen.

Die Zerstrittenheit der Mitte-Links-Parteien schwächt das pro-europäische Lager in der Türkei und erhöht die Erfolgschancen der gemäßigten Islamisten von der „Gerechtigkeits- und Aufbruchspartei“ (AKP), die in den Meinungsumfragen derzeit weit vor allen anderen Parteien liegt.

Der parteilose Dervis sagte bei einer von vielen türkischen Fernsehsendern live übertragenen Pressekonferenz in Ankara, die „Neue Türkei“ von Cem und Özkan lehne die Zusammenarbeit mit anderen sozialdemokratischen Parteien ab.

Deshalb könne er nicht Mitglied dieser Partei werden. Seine Bemühungen um eine Vereinigung des sozialdemokratischen Lagers gingen aber weiter. Der 53-jährige sagte auch, er wolle sich derzeit nicht für eine Partei entscheiden.

Gleichzeitig ließ er aber starke Sympathien für die Republikanische Volkspartei (CHP) von Deniz Baykal erkennen. Baykal hatte Dervis kurz zuvor aufgefordert, zur CHP zu kommen. Mit Dervis verlieren die türkischen Reformkräfte um Cem kurz vor der Wahl am 3. November einen ihrer wichtigsten Aktivposten. Zusammen mit Cem und Özkan bildete Dervis bisher jene „Troika“, die aus der Türkei ein moderneres und demokratischeres Land mit klarer EU-Perspektive machen wollte. Die drei Politiker hatten sich in den vergangenen Wochen häufig getroffen und über eine Zusammenarbeit gesprochen. Doch auch nach seinem Rücktritt als Wirtschaftsminister am vergangenen Wochenende trat Dervis nicht Cems Partei bei, sondern bemühte sich weiter als Parteiloser um ein Bündnis der Mitte-Links-Parteien. Diese Bemühungen sind aber fehlgeschlagen, weil alle Parteien darauf bestehen, selbst Führungskraft im Bündnis zu werden.

In der Türkei gibt es fünf Parteien, die um sozialdemokratische Wähler werben. Nach jüngsten Umfragen kommen aber selbst die CHP und Cems „Neue Türkei“ als stärkste dieser Formationen nur auf jeweils rund sieben Prozent der Stimmen und liegen damit unterhalb der für den Parlamentseinzug geltenden Zehn-Prozent-Hürde. Wegen seiner Popularität werden Dervis weitere fünf Prozent Wählerstimmen zugerechnet. Ohne Parteizugehörigkeit kann Dervis dieses politische Gewicht bei den Wahlen aber nicht umsetzen.

In dieser Lage dürfte die gemäßigt-islamistische AKP ihren Vorsprung vor den anderen Parteien weiter ausbauen. Selbst nach den günstigsten Prognosen erhält die AKP zwar nicht mehr als 20 Prozent; jeder vierte Wähler ist zudem noch unentschieden. Doch in der in viele kleine Parteien aufgespaltenen Welt der türkischen Politik sind die 20 Prozent ein Ergebnis, das dem 48-jährigen AKP-Chef Recep Tayyip Erdogan den Ministerpräsidenten-Posten einbringen könnte.

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