zum Hauptinhalt
Sahra Wagenknecht (Linke)

© dpa

Sahra Wagenknecht und Heiner Geißler: "Jeder vernünftige Mensch muss heute Kapitalismuskritik üben"

Die Linke Sahra Wagenknecht und der Christdemokrat Heiner Geißler streiten über die Frage, ob und wie der wild gewordene Kapitalismus abzuschaffen ist

Frau Wagenknecht, wer ist für Sie die größere Autorität in Sachen Gerechtigkeit: Karl Marx oder der Papst?

Sahra Wagenknecht: Der Papst hat in deutlichen Worten kritisiert, dass die Einkommen immer mehr auseinanderklaffen. Ich glaube, jeder Mensch mit Sinn und Verstand, der sich Verhältnisse anschaut, wo ein Aktienanalyst das Tausendfache eines Altenpflegers verdient, kann nur zu dem Schluss kommen, dass wir heute eine zutiefst ungerechte Gesellschaft haben.

Sie erwähnen Marx nicht? Wir sind erstaunt! Was sagen Sie zu Marx, Herr Geißler?

Heiner Geißler: Ich hätte lieber was zum Papst gesagt.

Bitte!

Geißler: Seit Johannes Paul II. ist auch die katholische Kirche zu der Einsicht gekommen, dass das globale Wirtschaftssystem mit dem Evangelium nicht zu vereinbaren ist. Bei seinem letzten Besuch hier in Berlin hat Benedikt das leider sehr verzerrt.

Immerhin hat er im Bundestag eine Lanze für die Gerechtigkeit gebrochen.

Geißler: Aber es ist ärgerlich, dass er Augustinus falsch zitiert hat. Der sagt: Was wäre ein Staat ohne Gerechtigkeit anderes als eine große Räuberbande? Der Papst übersetzte iustitia einseitig mit Recht. Das ist falsch. Iustitia heißt Gerechtigkeit, und Gerechtigkeit ist mehr als Recht. Das war sicher kein Lapsus, sondern Absicht.

Haben Sie überlegt, ihm das nachzurufen?

Geißler: Das mache ich jetzt bei Ihnen.

Und was heißt nun Gerechtigkeit?

Geißler: Ich greife mal ein Gerechtigkeitsprinzip heraus: iustitia commutativa, also ausgleichende Gerechtigkeit. Sie soll natürliche Ungleichheiten zwischen den Menschen vor dem Gesetz ausgleichen. Leistung und Gegenleistung sollen einander entsprechen ebenso wie Ware und Preis, Schaden und Schadensersatz. Ich finde, dass die Wirklichkeit dem ins Gesicht schlägt. Teile dieser Wirklichkeit sind sogar verfassungswidrig.

Im Ernst? Arbeitgeberverbände könnten Ihnen entgegenhalten: Nie gab es in Deutschland mehr Erwerbstätige als heute. Und die oberen zehn Prozent der Steuerzahler stehen für 60 Prozent des Steueraufkommens. Die Lohnsumme steigt.

Wagenknecht: In Wahrheit haben die Arbeitenden immer weniger Anteil am volkswirtschaftlichen Reichtum. Die größten Einkommen werden erzielt aus purem Vermögensbesitz, der oft auf Erbschaft oder Spekulation zurückgeht. Eine Wirtschaftsordnung, in der Eigentum zu nichts verpflichtet, ist verfassungswidrig. Und die von Ihnen genannte Zahl bezieht sich nur auf die Einkommensteuer. Der größte Teil des Steueraufkommens kommt von den kleinen Leuten über Verbrauchssteuern.

Geißler: Wir haben weltweit eine massive Verletzung des Gerechtigkeitsgebots, die von der Völkergemeinschaft hingenommen wird. In den Favelas sterben täglich Kinder, weil die Grundnahrungsmittel Teil von Spekulationsgeschäften und daher immer teurer geworden sind. Die Preise sind keine gerechten Preise. Lohndumping ist die Regel. Und Schaden muss – siehe Finanzkrise – bekanntlich nicht von den Urhebern ersetzt werden, sondern vom Steuerzahler.

Wagenknecht: Das stimmt. Deshalb will ich dieses Wirtschaftssystem überwinden, weil es täglich Kinder sterben lässt. Der Kapitalismus erfüllt nicht einmal seinen eigenen Anspruch auf Leistungsgerechtigkeit – also dass sich die Verteilung der Güter nach der Leistung der Menschen richtet.

Klingt arg sozialdarwinistisch. Das Recht des Stärkeren ist doch ein urkapitalistisches Motiv.

Wagenknecht: Urkapitalistisch ist, dass eine Minderheit von der Arbeit der Mehrheit reich wird. Leistungsgerechtigkeit schließt ein, dass jeder die Chance hat, seine Fähigkeiten einzubringen. Wer arbeitslos ist, kann das nicht. Außerdem muss eine Gesellschaft – unabhängig von der Leistung – immer einen menschenwürdigen Standard für alle ihre Mitglieder gewährleisten. Hartz IV ist menschenunwürdig.

"Das Problem sind nicht die Vermögenden, sondern ist die immer größere Masse der Armen."

Starker Tobak! Herr Geißler, steigen Sie mit Frau Wagenknecht demnächst auf die Barrikaden, um das Unternehmertum abzuschaffen?

Geißler: Nicht den Unternehmer. Aber das kapitalistische System, das auch den Mittelstand massiv bedroht.

Frau Wagenknecht, Sie haben ein Buch darüber geschrieben, wie wir zu mehr Gerechtigkeit kommen: Freiheit statt Kapitalismus.

Geißler: Ich muss Ihnen leider sagen, das Buch hat den falschen Titel. Richtig wäre Solidarität statt Kapitalismus, denn die ist heute mehr gefährdet als die Freiheit.

Wagenknecht: Doch, der Kapitalismus gefährdet die Freiheit. Oder gibt es Freiheit ohne Gerechtigkeit?

Geißler: Natürlich. Aber nur für wenige. Vor vierzig Jahren war »Freiheit statt Sozialismus« richtig, weil dieser nicht von vornherein identisch ist mit Solidarität.

Wagenknecht: »Freiheit statt Sozialismus« – der Slogan ist falsch. Nur in einer Wirtschaftsordnung ohne private Wirtschaftsmacht ist Freiheit für alle möglich. Heute wird die Demokratie Zug um Zug abgeschafft, indem nicht mehr gewählte Politiker regieren, sondern Finanzinstitute. Für deren Zockereien müssen jetzt Rentner, Arbeitslose und abhängig Beschäftigte bluten.

Wie wollen Sie denn verhindern, dass die kleinen Leute besonders zu leiden haben?

Wagenknecht: Statt Lohn- und Rentenkürzungen brauchen wir eine drastische Vermögensabgabe für Millionäre. Die absurden Spekulationsgeschäfte der Banken müssen verboten werden. Außerdem ist eine Entschuldung der Staaten nötig, aber nicht zulasten von Riester-Sparern und Mittelschichten, sondern bezahlt von jenen Vermögen, die ihr rasantes Wachstum nicht zuletzt Steuerdumping und Bankenrettung verdanken. In Deutschland hat die kleine Schicht der Millionäre mehr Geld, als Bund, Länder und Kommunen zusammen an Schulden haben.

Herr Geißler, sind die Vermögenden jetzt auch das Feindbild der CDU?

Geißler: Das Problem sind nicht die Vermögenden, sondern ist die immer größere Masse der Armen. Jeder vernünftige Mensch muss heute Kapitalismuskritik üben. Die CDU will eine ökosoziale Marktwirtschaft und eine radikale Reform der Finanzmärkte. Die Frage ist, ob die Politik sich durchsetzt. In Edinburgh beschlossen die G-20-Staaten, die Finanzmärkte zu kontrollieren. Seither treten wir auf der Stelle.

Warum?

Geißler: Weil Profitgier die Märkte beherrscht. Wir erleben, dass eine Ölplattform in der Karibik explodiert, die gar nicht hätte gebaut werden dürfen. Aber es lockte der Profit! Alle Kraftwerksblöcke in Fukushima waren für Erdbeben der Stärke 8,4 ausgelegt, 9 plus wäre aber richtig gewesen. Bei uns sind sieben Kernkraftwerke nicht gesichert gegen einen Absturz eines vollgetankten Jumbos. Warum? Profit! Profit! Die Leute fragen sich natürlich: Stehen die globalen Finanzmanager über der demokratischen Rechtsordnung?

Auch Unternehmer zahlen Steuern.

Geißler: Die sind nicht gemeint. Aber wann wird endlich eine internationale Finanztransaktionssteuer an den Börsen eingeführt, die einen täglichen Umsatz von zwei Billionen Dollar machen? Während jeder normale Mensch für jede Windel und Kaffeemaschine Umsatzsteuer zahlt, beteiligen sich die Devisenhändler und Spekulanten mit keinem Cent an der Finanzierung der Menschheitsaufgaben. Es gibt Geld wie Heu auf dieser Erde, nur haben es die falschen Leute.

Die Chinesen haben schon den Staatskapitalismus. Kann eine Rotfront es bei uns richten?

Wagenknecht: Ich möchte keinen Staatskapitalismus, sondern eine neue Wirtschaftsordnung, in der Eigentum nur noch durch Arbeit entsteht. Das setzt voraus, dass nicht mehr Firmenerben oder Hedgefonds Eigentümer der großen Wirtschaftsunternehmen sind, sondern die Beschäftigten oder die Gesellschaft insgesamt. Seit der Abschaffung der Monarchie ist politische Macht nicht mehr vererbbar. Wenn wir eine wirkliche Demokratie wollen, darf auch Wirtschaftsmacht nicht mehr wie ein privates Gut vererbt werden.

Geißler: Volksaktien und Arbeitnehmereigentum am Produktivkapital sind uralte Forderungen der CDU. Die soziale Marktwirtschaft nach 1945 war ein geistiges Bündnis zwischen dem Ordoliberalismus der Freiburger Schule und der christlichen Sozialethik. Aber wo sind die Kirchen heute? Die Theologie ist total spiritualisiert. Der Papst sagt, die Kirche soll sich aus den Dingen der Welt zurückziehen. Das ist ein grobes Missverständnis des Evangeliums.

Wagenknecht: Wer die Botschaft der Nächstenliebe ernst nimmt, muss eigentlich Sozialist sein. Für das ureigenste Anliegen der Ordoliberalen, »Wer den Nutzen hat, muss auch den Schaden tragen«, haben die Banker nur Hohngelächter übrig.

Und der Staatssozialismus? Beim letzten Mal, als die ganze Welt gerecht werden sollte, waren am Ende Zigmillionen Menschen tot.

Wagenknecht: Das damalige Modell ist gescheitert und vorüber. Aber die Verbrechen Stalins rechtfertigen nicht, sich mit den Verbrechen des Kapitalismus abzufinden. An einer Neuverteilung von Einkommen und Eigentum führt kein Weg vorbei.

Sie haben neulich gefordert, dass alle Privatvermögen ab einer Million Euro zu hundert Prozent besteuert werden müssen. Also Enteignung ab einer Million Euro. Das ist reine Willkür.

Wagenknecht: Nein, ab einer Million möchte ich eine Vermögensteuer von jährlich fünf Prozent. Die hundert Prozent beziehen sich auf den Erbfall. Willkür ist es, wenn Einzelne über Milliarden verfügen, die sie selbst nie erarbeitet haben.

Sich Millionen anzueignen ist also okay, aber Millionen erben nicht? Herr Geißler, wollen Sie auch die Erben enteignen?

Geißler: Nein. Und die Vermögensteuer ist eine Substanzsteuer, das heißt, das Geld wurde schon versteuert. Aber die Kapitalertragsteuer ist viel zu niedrig. Früher bei der CDU lag der Spitzensteuersatz bei 53 Prozent, den hat Rot-Grün dezimiert. Was sich die Regierung Schröder im letzten Jahrzehnt erlaubt hat – unglaublich. Ich kann mich nur wundern, dass die Linke, Frau Wagenknecht, nicht stärker gegen ihre Blutsbrüder vorgeht.

Wagenknecht: Weil die angeblichen Blutsbrüder den Sozialstaat zerschlagen haben, hat die Linke sich gegründet.

Wie viel moralischen Kredit hat die Linke, heute noch Sozialismus zu fordern, Herr Geißler? Müsste sie nicht tätige Reue üben?

Geißler: Ich kann die heutige Linke nicht pauschal verantwortlich machen für die Verbrechen des Stalinismus und der SED. Sie muss aber klar dafür eintreten, dass sich das nicht wiederholt. Sozialismus ist gut gemeint, wenn er demokratisch ist. Auch ich sage: Wir können uns das Geld nicht länger von denen holen, die ohnehin wenig haben. Für die 7,6 Millionen Bedürftigen in Deutschland muss endlich ein anständiges Einkommen durchgesetzt werden.

Und auf welcher Grundlage?

Geißler: Menschenwürde – die nicht identisch ist mit dem Existenzminimum.

Geißler und Wagenknecht können sich eine Koalition aus CDU und Linke vorstellen - aber nicht unter Merkel.

Heiner Geißler (CDU)
Heiner Geißler (CDU)

© dpa

Herr Geißler, würden Sie mit der Linken paktieren?

Geißler: Prinzipiell ja. Es kommt auf die Sache an. Mit den Grünen geht es jetzt ja auch. Im Parlament dagegen gibt es Koalitionszwänge, die gemeinsames Agieren verhindern. Das kann sich ändern.

Frau Wagenknecht, würden Sie mit der CDU paktieren?

Wagenknecht: Mit CDU-Politikern wie Heiner Geißler kann ich mir jederzeit eine Zusammenarbeit vorstellen. Mit der CDU Angela Merkels, die gerade dabei ist, ganz Europa mit einer verschärften Agenda 2010 ins Desaster zu stürzen, nicht.

Also keinerlei Dissens zwischen Ihnen beiden?

Geißler: Doch, natürlich. Gerade in der Europa-Politik und in der Außenpolitik. Ich will nicht raus aus der Nato. Und ein Abzug aus Afghanistan würde Unrecht stabilisieren, statt Menschenrechte zu schützen.

Wagenknecht: Dieser Nato-Krieg mordet täglich unschuldige Menschen. So kann man Menschenrechte nicht schützen.

Geißler: Ich empfehle Ihnen, einmal vor Ort mit afghanischen Frauen zu reden.

Stimmt es, dass uns Barmherzigkeit leichterfällt, wenn es möglichst wenig Steuern gibt?

Geißler: Barmherzigkeit ist nicht identisch mit Gerechtigkeit. Der beugen sich die Reichen selten freiwillig. Bei sieben Milliarden Menschen auf der Erde muss man Nächstenliebe organisieren.

Was ist eigentlich Nächstenliebe?

Geißler: Jedenfalls kein Gutmenschentum, sondern eine knallharte Pflicht. Wie schwer sie fällt, kann man in der Bibelgeschichte vom Samariter nachlesen. Heute ist an die Stelle der Ethik die Marktideologie des Geldes getreten. Schon Schulkinder werden zu extremer Leistung getrieben, anstatt eine ethische Bildung zu erfahren. Und mit Hartz IV haben wir den Menschen zum Kostenfaktor erklärt.

Wir dachten, Hartz IV schafft Arbeitsplätze.

Geißler: Sie meinen wohl Minijobs und Leiharbeit. Hartz IV ist für viele Langzeitarbeitslose die in Paragrafen gefasste staatliche Missachtung ihrer Lebensleistung. Hartz IV ist sittenwidrig.

Wagenknecht: Ja, und Niedriglöhne sind es auch. Wir haben in Deutschland im Trend seit über zehn Jahren Reallohnsenkungen. Die Menschen haben nicht nur Angst, krank zu werden, sondern auch, sich zu wehren. In den siebziger Jahren hatten wir passable Tarifverträge, und es gab fast keine Hungerlohnjobs. Heute subventioniert der Staat Unternehmer, die miserabel bezahlen. Das kostet uns zehn Milliarden Euro im Jahr. Mit einem Mindestlohn von zehn Euro könnte man dieses Geld sparen.

Der Staat ist also doch nicht zu schwach, um sich einzumischen?

Wagenknecht: Nein, aber seine Einmischung begünstigt heute regelmäßig die Falschen.

Aber die Parteien, die das beschließen, wurden gewählt!

Wagenknecht: Weil sie oft nach den Wahlen das Gegenteil dessen tun, was sie vorher versprochen haben, gehen immer weniger Menschen zur Wahl. Auch deswegen brauchen wir mehr direkte Demokratie und ein Ende der käuflichen Politik. Parteispenden von Unternehmen müssen ebenso verboten werden wie die Erarbeitung von Gesetzen durch Wirtschaftskanzleien. Auch die Agenda 2010, die zu Millionen prekären Jobs führte, wurde von den Wirtschaftsverbänden erarbeitet.

Geißler: Als ich Familienminister war und wir den Erziehungsurlaub beschlossen, gab es zum allerersten Mal befristete Arbeitsverträge, damit Vertretungen möglich sind. Heute kriegen junge Leute fast nur noch befristete Verträge. Im Arbeitsrecht haben die demokratischen Sozialisten die humanen Errungenschaften der Arbeiterbewegung kurzerhand vom Tisch gefegt – nur weil Gerhard Schröder den neoliberalen Tony Blair nachmachen wollte. Und meine katholische Kirche unterstützte das noch mit dem Bischofswort Das Soziale neu denken. Ich dachte, die sind verrückt geworden. Wir können doch nicht das Evangelium neu denken. Sondern wir müssen das Neue sozial denken – am Menschen orientiert.

Frau Wagenknecht, Sie zitieren neuerdings Ludwig Erhard, wie steht es mit der Bergpredigt? Gucken Sie da gelegentlich rein?

Wagenknecht: Nach der Bergpredigt sind diejenigen selig, die keine Gewalt anwenden und nach Gerechtigkeit dürsten. Was Ludwig Erhard betrifft: Ich plädiere nicht für die Wiederherstellung der Verhältnisse der fünfziger Jahre. Aber wer »Wohlstand für alle« ernst nimmt, kann sich wohl kaum für Sozialabbau und Hungerlohnjobs begeistern. Wenn die SPD zerstört, wofür die Sozialdemokratie eineinhalb Jahrhunderte gekämpft hat, dann muss die Linke sich neue Bündnispartner suchen.

Ein Bündnis mit Herrn Geißler?

Wagenknecht: Ich behaupte nicht, dass wir Linken die Einzigen sind, die die Gesellschaft gerechter machen wollen. Das wollen auch viele Bürgerliche und sogar Konservative. Weg vom Neoliberalismus! Ich wünsche mir, dass es mehr Menschen gibt, auch in der CDU, die wie Herr Geißler die jetzige Wirtschaftsordnung überwinden wollen.

Vor Kurzem sind die linken Utopien gründlich gescheitert. Haben Sie trotzdem noch Utopien?

Wagenknecht: Sozialismus ist nicht meine Utopie, sondern mein politisches Ziel. Ich will nicht zurück zu dem System, das in Osteuropa Realität war. Aber wir brauchen größere Bereiche an Gemeineigentum. Ein Gesundheitswesen, wo der Patient nicht Kunde ist, der nach seiner Brieftasche behandelt wird. Eine Energiepolitik, die nicht abhängig ist von Renditen. Und Banken, die sich regulieren lassen, weil sie in öffentlichem Eigentum sind. Bei all dem Geld, das wir schon in die Bankenrettung investiert haben, gehören sie längst dem Steuerzahler.

Geißler: So müsste meine Welt aussehen: Priorität der Politik gegenüber Finanzwelt und Ökonomie. Außerdem: ein globaler Marshallplan der reichen Länder und eine internationale Marktwirtschaft, deren ethisches Fundament das Soziale, Ökologische und Friedenspolitische ist.

Vervollständigen Sie zum Schluss einen Satz für uns? Wenn eine Gesellschaft nicht gerecht handelt, dann...

Geißler: ...dann geht sie zugrunde wie einst das Römische Reich.

Wagenknecht: ...dann verletzt sie die Menschenwürde. Wer Goethes Faust gelesen hat, muss überzeugt sein, dass die Menschen irgendwann aufstehen und solche Verhältnisse überwinden.

Sahra Wagenknecht
wurde 1969 in Jena geboren. Sie durfte in der DDR nicht studieren, trat aber in die SED ein. Ab 1991 gehörte sie zum Parteivorstand der PDS, später zur Kommunistischen Plattform. Heute ist sie stellvertretende Vorsitzende der Partei Die Linke. Eben erschien von ihr Freiheit statt Kapitalismus.

Heiner Geißler
wurde 1930 in Oberndorf am Neckar geboren. Er war Jesuitenschüler, studierte Jura und promovierte über Kriegsdienstverweigerung. Seit 1953 ist er in der CDU, für die er Bundesminister und Generalsekretär war. 2007 wurde er Mitglied bei Attac. Zuletzt schrieb er Ou Topos: Suche nach dem Ort, den es geben müsste.

Der Beitrag ist ursprünglich erschienen auf ZEITonline.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false