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Christus-Statue in Brasilien.

© dpa

Jesus als Kommunikationsstratege: „Wahrlich, ich sage euch“ - unsterblich werden ohne Werke zu schaffen

Von Jesus gibt es nichts Schriftliches. Er hat auch kein Bild hinterlassen, kein Lied, keine Kinder. Das war alles wider die menschlichen Unsterblichkeitsregeln. Trotzdem hat er 2,2 Milliarden Follower. Ein Essay

Ein Essay von Malte Lehming

Versuchen Sie mal, nicht an einen Elefanten zu denken. Was passiert? Sie denken an einen Elefanten. Seien Sie spontan. Was passiert? Egal was Sie tun, es wird nicht spontan sein. Schreiben Sie mal ein Stück über Jesus, der selbst nichts Schriftliches hinterlassen hat. Schon wieder schnappt die Falle zu. Wie soll das gehen? In Schriftform einen Menschen dafür würdigen, dass er nichts geschrieben hat? Katze, Schwanz, Katze, Schwanz.

Und so ganz stimmt es ja auch nicht. Im Johannes-Evangelium steht die Geschichte von der Ehebrecherin, die auf frischer Tat ertappt und anschließend von den Schriftgelehrten vor Jesus gestellt wird. Nach damals gültiger Lehre müsste sie gesteinigt werden. Nun soll Jesus dazu Stellung nehmen. Eine heikle Situation, brenzlig sogar. Bricht er mit dem Gesetz? Jesus entwindet sich der Konfrontation, indem er mit dem Finger wie beiläufig etwas in den Sand schreibt. Eine Übersprungshandlung? Seine Herausforderer lassen nicht locker. Dann richtet er sich kurz auf und sagt den legendären Satz: „Wer ohne Sünde ist, werfe den ersten Stein!“ Das saß.

Was hat Jesus in den Sand geschrieben? Das erfahren wir nicht. Wir wissen auch nicht, warum er sonst nichts geschrieben und nichts für die möglichst unverfälschte Weitergabe seiner Worte und Lehre getan hat. Er war Wanderprediger, zog von Ort zu Ort, verkündete seine Botschaften mündlich. Genau wie seine Jünger: Die gaben seine Lehre auch zunächst nur mündlich weiter.

Wie alle Erzähler setzten sie verschiedene Akzente, ließen das eine weg, betonten das andere. Viel später erst kompilierten die Evangelisten – Markus, Matthäus, Lukas, Johannes – das interpretatorisch vorgeformte Material und ordneten es nach eigenem Gutdünken. So entstanden die Evangelien, mit Jesu Geburt, den Wundern und Worten, Kreuzigung, Auferstehung, dem Heiligen Geist.

Warum töten Buchstaben?

Wie wirkt jemand ohne Werke, die er schafft, und ohne Nachkommen, die er zeugt? Kein Musikstück komponiert, kein Bild gemalt, kein Land erobert, keine Erfindung gemacht: So etwas dürfte es nach den menschlichen Unsterblichkeitsregeln nicht geben. Dabei ist es gar nicht selten. Auch Sokrates und Buddha hinterließen nichts Schriftliches. Der erste wurde durch die Schriften Platons verewigt, der zweite durch das Mönchskonzil in Rajagriha, auf dem die erinnerten Buddhaworte gesammelt und geordnet wurden.

Was Platon für Sokrates und das Mönchskonzil für Buddha war Paulus für Jesus. Paulus hieß erst Saulus, war Jude und römischer Staatsbürger und verfolgte die Jesus-Anhänger. Dann wandelte er sich, wurde Missionar, blieb dennoch ein Eiferer. Auf drei abenteuerlichen Reisen rund ums Mittelmeer verbreitete er die Lehren der neuen religiösen Bewegung, schrieb den christlichen Gemeinden Brief um Brief, systematisierte und dogmatisierte die christliche Botschaft. In womöglich großer Klarheit über die Begrenztheit seines eigenen Tuns formulierte er die Einsicht: „Der Buchstabe tötet, aber der Geist macht lebendig.“

Warum tötet der Buchstabe? Heißt es nicht zu Beginn des Johannes-Evangeliums „Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort“? Allerdings meint das Wort „Wort“ im biblischen Sprachgebrauch mehr als eine Aneinanderreihung von Buchstaben. Im griechischen Begriff „logos“ steckt auch der göttliche Geist. Das merkt Goethe, der seinen Faust rätseln lässt: „Geschrieben steht: ,Im Anfang war das Wort!’ / Hier stock’ ich schon! Wer hilft mir fort? / Ich kann das Wort so hoch unmöglich schätzen, / Ich muss es anders übersetzen.“ Als Sinn, als Kraft, als Geist, als Tat.

Täglich entsteht eine Bibliothek

Wer nicht schreibt, bleibt, wenn das Aufschreiben ein anderer übernimmt. Eine Art Arbeitsteilung. Ohne Akteur keine Geschichte, ohne Geschichtenerzähler keine Tradition. Etwa 2,2 Milliarden Christen gibt es weltweit. Es ist die größte Religionsgemeinschaft. Jesus bringt es also, neumodisch gesprochen, ohne eigenen Facebook-Account auf 2,2 Milliarden Follower. Nicht schlecht für einen, der keine Werke schuf und nur durch sein Sein, sein Handeln, seine Worte wirkte.

Für den, der an die Wirkungskraft des Gegenteils glaubt, ist das gemein. Wer schreibt, der bleibt: So soll es sein. „Unsterblich wandelt durch der Zeiten Frist / das Werk des Denkers, der ein Künstler ist“, dichtete Marie Freifrau von Ebner- Eschenbach. Das künstlerisch Vollendete trägt demnach die Ewigkeit in sich. Der Roman, das Musikstück, das Gemälde: In der Kunst lebt die Seele des Künstlers fort. Er schafft es, durch sein Werk die Vergänglichkeit zu überlisten. Faust überdauerte Goethe. Tod, wo ist dein Stachel?

Wer schreibt, der bleibt – der Glaube daran scheint in unserer Zeit epidemisch geworden zu sein. Mehr Worte, mehr Schrift, mehr Gelesenes als heute war nie. Es wird geschrieben, noch bevor es eine Botschaft gibt. Ob über Zeitungen, Bücher, soziale Netzwerke, Onlineportale oder Kurznachrichtendienste: Stetig wächst die Produktion von Schriftlichem sowie dessen Umlaufgeschwindigkeit.

Täglich entsteht eine Bibliothek. Täglich gesendet werden ungefähr eine halbe Milliarde Tweets. Auch Papst Franziskus macht mit. Und die Bischöfe mit ihren Enzykliken und Denkschriften: Genügt es ihnen nicht, einfach nur zu sein und zu denen zu reden, die nicht nur zuhören, sondern die Botschaft auch empfangen wollen und auf sie reagieren können?

„Das Wort ward Fleisch und wohnte unter uns“

Den Wahn hinter dem Glauben, durch Werke unsterblich zu werden, hat schon Woody Allen entlarvt. „Ich will nicht dank meiner Filme unsterblich werden“, sagte er. „Ich will unsterblich werden, indem ich nicht sterbe!“ Oscar Wilde wiederum schildert im Roman „Das Bildnis des Dorian Gray“ einen Künstler, der ein Selbstbildnis schafft. Während er selbst ewig jung bleibt, altert das Bild. Immer scheußlichere Züge nimmt es an, wirkt wie eine Parodie, eine Satire.

„Das hatte er niemals gemalt. Und dennoch war es sein Bild. Er kannte es, und ihm war, als hätte sich sein Blut binnen eines Augenblicks von Feuer in stockendes Eis verwandelt.“ Das Gebet seines Stolzes war erhört worden. Der Wunsch nach ewiger Jugend ward ihm erfüllt – und er selbst dadurch bestraft. Denn in Wahrheit ist es anders herum: Der Mensch altert, der Geist bleibt ewig jung.

Müssen wir uns abfinden mit der Vergänglichkeit, den Tod als das Ende akzeptieren? Immerhin können Süßwasserpolypen, einige Seegurkenarten und die Qualle Turritopsis dohrnii unter idealen Bedingungen unbegrenzt lange leben. Warum also nicht wir Menschen? Die neueste Hoffnung lautet, so etwas nachzuahmen. Wie wäre es, das gesamte Bewusstsein eines Menschen digital abzuspeichern?

„Mind-Uploading“ wird das genannt. Das gespeicherte Bewusstsein ließe sich dann später in einen Roboter einpflanzen, der eine perfekte Kopie unserer selbst wäre. Er könnte sich an Ereignisse erinnern, die er selbst nie erlebt hat, weil es unsere Ereignisse sind. Das Problem ist nur: Tot wären wir leider trotzdem. Von dem, was der Roboter denkt, haben wir nichts mehr.

„Das mit dem Sterben muss aufhören!“ So titelte im November der NDR einen Nachruf auf Leonard Cohen. Das Jahr 2016 werde wohl „als eines der verlustreichsten Jahre des Kulturlebens in die Geschichte eingehen“, bilanzierte der Autor. Die Liste der Namen ist lang: David Bowie, Prince, Umberto Eco, Roger Willemsen, Roger Cicero, Glenn Frey (Eagles), Götz George, Muhammad Ali. Aber täuscht das nicht? Sind 2016 wirklich signifikant mehr Künstler und Kulturschaffende gestorben als sonst?

Immer mehr Tote? Nein, immer mehr Nachrufe

Die BBC hat nachgezählt. Tatsächlich waren zwischen Januar und März 2016 doppelt so viele Nachrufe auf Prominente gesendet worden wie im selben Zeitraum 2015. Im Vergleich zu 2012 hat sich die Zahl sogar verfünffacht. Täuschen kann die Statistik trotzdem. Vor 50 bis 60 Jahren boomte die Show- und Musikbranche und brachte Stars am laufenden Band hervor. Die meisten sind heute im Greisenalter. Hinzu kommt der Echoeffekt der sozialen Netzwerke. Kaum stirbt jemand, postet jeder Fan seinen ganz persönlichen „RIP“. Das verstärkt den Eindruck eines einzigartigen Trauerjahres. Leo Fischer, der Satiriker, twitterte im September: „Es sterben übrigens nicht mehr Prominente als sonst, es sterben nur mehr Prominente, die ihr kennt. Weil ihr ALT werdet, ha!“

Wenn aber das künstlerische Werk seinen Schöpfer überdauert, warum sind wir dann trotzdem traurig, wenn der Künstler stirbt? An Prince, Bowie und Cohen verehren wir deren Musik doch mehr als den Menschen dahinter. Was an Bowie wichtig war, lebt fort. Seine Stimme, die Gestik, die Töne, der Tanz, alles jederzeit abrufbar, auf Ton- und Bildträger gespeichert. So wird der Nachruf bereits zu einem Teil dessen, was er dokumentieren soll: Unvergänglichkeit.

Es geht um das "Vielleicht", und was man aus ihm macht

Jesus zeigt, dass Ewigkeit auch anders entsteht. Nicht durch ein „Es steht geschrieben“, sondern durch ein „Wahrlich, ich sage euch“. Das Wort wird bei ihm nicht zur Schrift, zum jederzeit und überall Konservierbaren, sondern bleibt situativ auf Menschen bezogen. Seine Rede ist einmalig – und wirkt in die Ewigkeit. Ein Wunder? Ein Wunder. „Das Wort ward Fleisch und wohnte unter uns“, heißt es über ihn bei Johannes. Nicht erst der, der Werke schafft, Länder erobert oder Dinge erfindet, kann der Zeit ihren Zahn ziehen, sondern jeder, der einfach nur auf bestimmte Weise da ist, mit anderen, für andere. Das reicht.

Und weil es reicht, gibt es für Künstler, die es durch ihre Werke versuchen, keine mildernden Umstände. Keine Entschuldigung also für cholerische Anfälle von Theaterregisseuren, für prügelnde Maler, drogensüchtige Musiker oder autoritätsfixierte Schriftsteller. Niemand darf für sich reklamieren, im Dienst einer angeblich höheren Sache mit anderen als den herkömmlichen Maßstäben bemessen werden zu wollen.

Unsterblich werden, ohne Werke zu schaffen: Das ist Trost und Ansporn zugleich. Es tröstet, weil der Maßstab eines gelingenden Lebens sich nicht in der Qualität produzierter Dinge erschöpft. Es ist Ansporn, weil die Art des Mitseins mit anderen Menschen schon zum Teil des Überdauerns des eigenen Lebens wird. Wer schreibt, der bleibt – vielleicht. Wer nicht schreibt, der bleibt – vielleicht. Es kommt ganz darauf an, was man aus diesem „Vielleicht“ macht.

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