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Politik: Jetzt erst recht

Ankara will sich von dem Nein der EU nicht abschrecken lassen – und hofft auf die Hilfe der USA

Von Thomas Seibert, Istanbul

Über Monate hinweg haben die türkischen Politiker ihren Bürgern erzählt, wie wichtig der diesjährige Fortschrittsbericht der Europäischen Union sein würde. Doch nun wurde schon vor der Veröffentlichung des Berichts an diesem Mittwoch klar, dass die Bewerberin Türkei von Brüssel kein Datum für den Beginn von Beitrittsverhandlungen erhalten wird – und plötzlich soll der Bericht nicht mehr so entscheidend sein. Das meint jedenfalls Vize-Premier Mesut Yilmaz.

Der eigentliche politische Beschluss werde erst beim Gipfel in Kopenhagen im Dezember gefasst, sagte Yilmaz, nachdem die Eckpunkte des Papiers bekannt geworden waren. Deshalb wird die türkische Regierung in den kommenden Wochen ihren Druck auf die Europäer erhöhen.

Einige EU-Diplomaten in Ankara bekamen am Dienstag bereits zu spüren, wie das aussehen könnte: Der deutsche Botschafter Rudolf Schmidt und seine Kollegen aus Dänemark, Frankreich und Großbritannien mussten sich im türkischen Außenministerium Klagen über die angeblich ungerechte Behandlung durch die EU anhören.

Außenminister Sükrü Sina Gürel droht der EU zudem bereits mit einer Krise in ihrem Verhältnis zur Türkei. Ankara habe die Beitrittsverhandlungen verdient, sagte der als EU-Skeptiker bekannte Minister. Sollten die Europäer trotzdem Nein sagen, werde es in den türkisch-europäischen Beziehungen eine „neue Phase" geben. Einige Kommentatoren ziehen bereits Vergleiche zwischen dem kommenden Kopenhagener Gipfel und dem Gipfeltreffen von Luxemburg im Dezember 1997, bei dem die EU es ablehnte, die Türkei als Beitrittskandidatin anzuerkennen: Damals brach Ankara für mehrere Monate den Dialog mit Brüssel ab.

Diesmal haben die Türken noch andere Druckmittel in der Hand, als nur die Beleidigten zu spielen. So drängt die Supermacht USA bei der EU schon lange darauf, der Türkei als westlichem Vorposten an der Schnittstelle zwischen Ost und West eine verlässliche Beitrittsperspektive zu geben. Je mehr die Bedeutung der Türkei wegen des nahenden Krieges gegen ihr Nachbarland Irak wächst, desto drängender dürften die Forderungen der Amerikaner werden. Das Zypern-Problem könnte Ankara heranziehen, um Brüssel eine Art Tauschhandel nach dem Motto „EU-Verhandlungsdatum gegen Zypern-Lösung" anzubieten. Auch die türkische Innenpolitik kann Ankara ins Feld führen, um die Europäer zu überzeugen. Am 3. November finden Neuwahlen in der Türkei statt.

Fällt die Ablehnung der EU heute allzu schroff aus, dann hilft das am Wahltag den europa-skeptischen Kräften, was Brüssel vermeiden will. Wenn nach der Wahl die EU-Gegner in Ankara an die Macht kommen, ist es mit einem baldigen Beginn der Beitrittsverhandlungen ohnehin vorbei. Siegt dagegen das pro-europäische Lager, könnte dies die Entscheidungen in Kopenhagen noch positiv beeinflussen.

Nicht nur in Ankara, im ganzen Land hoffen viele Türken auf grünes Licht aus Brüssel. Die „Türkei-Plattform", ein Zusammenschluss von 200 regierungsunabhängigen Organisationen, forderte die Europäische Union auf, der Türkei ein Verhandlungsdatum zu nennen. Sicherheitshalber betonte der Dachverband aber auch, dass ein Misserfolg in Kopenhagen nicht das Ende der EU-Ambitionen bedeuten dürfe. Ein gewisses „psychologisches Problem" wäre es schon, wenn die Türkei kein Verhandlungsdatum erhalte, räumte ein Verbandssprecher ein: „Aber es geht weiter."

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