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Politik: Jobs oder Mäuse

Von Ursula Weidenfeld

Es ist wie verhext: Wir spüren noch nicht einmal, dass der Aufschwung da ist – da lässt er schon wieder nach. Während die Weltwirtschaft ein paar Jahre munteren Wachstums hinter sich hat und eine leichte Abkühlung vertragen kann, sieht die Sache in Deutschland anders aus. Die Mehrheit der führenden Wirtschaftsforschungsinstitute wird in ihrem Herbstgutachten für das kommende Jahr ein Wachstum von 1,5 Prozent vorhersagen. Das heißt: Bevor irgendjemand Lust bekommen konnte, zu Weihnachten endlich mal wieder ordentlich einkaufen zu gehen, wird die Bundesregierung ihre eigene Wachstumsprognose von 1,8 Prozent für 2005 zurücknehmen müssen. Bevor Beschäftigte das Gefühl entwickeln können, ihr Arbeitsplatz wird ein bisschen sicherer, werden neue dramatische Haushaltslöcher bei Bund, Ländern und Gemeinden festgestellt. Und bevor Arbeitslose auch nur den Hauch einer Chance auf einen neuen Job verspüren, müssen sie dem Arbeitsmarkt zu erheblich verschärften Konditionen zur Verfügung stehen.

Sieht so der Aufschwung aus? Nein, im Gegenteil. Opel, Karstadt, Schlecker, Volkswagen: Wohin man blickt, werden den Beschäftigten Opfer abverlangt, um Entlassungen zu vermeiden. Kaum ein Unternehmen, das nicht die Verlagerung von Arbeitsplätzen plant. Kaum ein Konzernchef, der seiner Belegschaft nicht erklärt, dass die bisherigen Standards nicht zu verteidigen sind.

Dabei müssten im Aufschwung doch neue Stellen entstehen. Wenn schon nicht bei Opel und bei Karstadt, dann wenigstens anderswo. Theoretisch müsste es im zweiten Jahr des Aufschwungs für die Metall- und Einzelhandelsbeschäftigten neue Perspektiven geben. Doch so läuft es nicht in der deutschen Wirtschaft. Schon in diesem Jahr war das Wachstum nur deshalb vergleichsweise stark, weil fünf Feiertage auf einen Samstag oder Sonntag fallen – und deshalb mehr gearbeitet wird. Wenn dieser Effekt im kommenden Jahr wegfällt, wird der Impuls für das Wachstum auch wieder schwächer. Dazu bremsen der hohe Ölpreis und der hohe Eurokurs das Exportwachstum. Und die Unsicherheit über die weitere Entwicklung jagt im Inland die Sparquote auf neue Rekorde – und schwächt entsprechend die Binnennachfrage. Die Konjunktur wird also insgesamt wenig Erholung bieten und eher eine schlappe Vorstellung bleiben.

Das könnte einen vergleichsweise kalt lassen, wenn der Arbeitsmarkt funktionieren würde. Unternehmen wie BMW und Porsche suchen Beschäftigte mit Kenntnissen in der Auto-Fertigung. Und die Metallarbeitgeber sprechen von 150 000 offenen Stellen in der Metall- und Elektroindustrie. Rechnerisch wäre es also kein Problem für alle Opel-Beschäftigten, einen neuen Job anderswo zu finden. Doch so einfach ist es nicht. Denn die meisten dieser Jobs sind nicht so attraktiv wie eine Stelle bei Opel. Zweitens werden sie nicht im Ruhrgebiet oder in Rüsselsheim angeboten. Und sie sind schlechter bezahlt. Oder die Arbeitgeber und die Jobsuchenden finden nicht zueinander, weil sie nicht voneinander erfahren.

Der Volkswagen-Betriebsrat hat Ende der vergangenen Woche seine Entscheidung verkündet: Wenn es bei den laufenden Verhandlungen um einen Haustarifvertrag auf die Frage „Jobs oder Mäuse“ hinauslaufe, werde man sich für die Jobs entscheiden. Das heißt: Lohnverzicht, um Arbeitsplätze zu sichern. Ähnlich ist zuvor bei DaimlerChrysler, Siemens und Karstadt entschieden worden. Das war vernünftig. Im Augenblick geht es darum, vorhandene Stellen zu erhalten und zukunftsfest zu machen. Noch vernünftiger aber ist es, Bedingungen zu schaffen, in denen die Arbeitnehmer den Spieß auch mal wieder umdrehen können. Dazu braucht man vor allem eine Wirtschaft, die deutlich mehr als 1,8 Prozent wachsen kann und in der dann auch neue Jobs entstehen. Dann würden die meisten derer, die heute ihren Arbeitsplatz verlieren, nicht nur rechnerisch, sondern auch praktisch eine neue Stelle finden. Der Abschied von Opel wäre immer noch bitter. Aber er wäre keine existenzielle Bedrohung mehr.

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