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Jugendgewalt

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Jugendgewalt: Gewaltrausch durch Schmerzmittel Tilidin?

Enthemmt und angstfrei: Die Droge Tilidin soll von jugendlichen Straftätern in Berlin angeblich missbraucht werden, um bei Schlägereien mutiger zu sein. Trend- oder Amokdroge wird pauschalisiert. Doch die Gefahr ist eine ganz andere.

"Hemmungslose Gewalt. Trend-Droge lässt Jugendliche durchdrehen" - so titelt Spiegel Online in einem Artikel über das Medikament Tilidin. "Wer sich mit Tilidin Mut antrinkt, ist kaltblütig und schmerzfrei genug, um andere Jugendliche abzuziehen, eine Schlägerei zu gewinnen oder eine Tankstelle auszurauben", schreibt das Magazin. Und: Konsumenten des Schmerzmittels seien in der Mehrzahl junge Araber. Der Bogen zum Brennpunkt-Thema Jugendgewalt ist geschlossen.

Tilidin wird vor allem in der Schmerztherapie angewendet, bei Tumorerkrankungen oder Verbrennungen. "Problematisch ist das Suchtpotenzial", erklärt Frau Constanze Jacobowski, zuständig für Sucht und Drogen bei der Ärztekammer Berlin. Psychisch sei man schnell drauf, dauerhaft genommen mache es körperlich abhängig. Tilidin macht angstfrei, man geht größere Risiken ein, fühlt sich enthemmt und euphorisch.

Bringen sich die Kriminellen tatsächlich absichtlich mit der Droge in Fahrt, um sich vor Gewalttaten zu enthemmen? Statistisch lässt sich das nicht belegen. Es gebe keine Zahlen zu Gewalttaten, bei denen die Täter unter Einfluss von Tilidin standen, sagt Olaf Schremm vom Dezernat für Wirtschafts- und Umweltdelikte beim LKA Berlin. Festgehalten werde lediglich ein allgemeines "stand unter Drogeneinfluss". Eine Zuordnung hält Schremm für dringend nötig. Immerhin sei das Tilidin-Phänomen bereits seit mindestens drei Jahren bekannt.

2000 Rezepte gefälscht

Auswertbar ist jedoch eine andere Zahl. Rund 2000 Rezepte wurden in den beiden vergangenen Jahren jeweils in Berlin gefälscht. Schremm geht davon aus, dass auf rund 90 Prozent dieser Rezepte das Medikament Tilidin "verschrieben" wurde. Die Dunkelziffer dürfte noch weit höher liegen. Inzwischen sind die Krankenkassen und Apothekerverbände für das Thema sensibilisiert, so dass es den Tätern zunehmend erschwert wird, ihre gefälschten Tilidin-Rezepte einzulösen.

Tilidin gilt beim LKA als Gruppendroge, die vor allem in Großstädten oder Ballungsgebieten wie dem Ruhrgebiet verbreitet sind. Die Theorie der Polizei: Die Beschaffung wird von Banden organisiert. Jugendgangs und Cliquen putschen sich dann gezielt vor Prügeleien damit auf.

Experte: Euphorie ist ein willkommenes Gefühl

Straßensozialarbeiter Jürgen Schaffranek von Gangway e.V. hält diese Sichtweise für problematisch. "Natürlich stellt die Polizei diesen Zusammenhang her, wenn sie Straftäter festnimmt, die das Zeug im Körper haben. Es macht schmerzfrei und daraus folgern die Beamten eine Absicht." Dennoch müsse man beachten, dass die Jugendlichen Tilidin vornehmlich nehmen, weil sie ihrer Realität entfliehen wollen. "Meist sind es Jugendliche, die auf der Straße leben, allein und perspektivlos sind. Da ist Euphorie ein willkommenes Gefühl", so Schaffranek.

Gleichzeitig bewegten sich die Konsumenten oft im Bandenmilieu und begingen Gewalt- oder Raubdelikte. Aber Schaffrenek betont: "Die nehmen das nicht, um zu schlägern, sondern weil es sie in einen angenehmen Zustand versetzt." Zwar räumt er ein, dass es in einigen Gruppen auch wegen der Schmerzfreiheit konsumiert werde. Dennoch sei die Straftat nicht die eigentliche Motivation der Jugendlichen. Auch dass die Droge vor allem bei muslimischen Jugendlichen verbreitet sei, wie Spiegel Online schreibt, betrachtet der Sozialarbeiter aus einem anderen Blickwinkel. Tilidin lasse sich eben gut verbergen, weil es für Muslime im Gegensatz zu Alkohol und anderen Drogen als Medikament nicht grundsätzlich verboten ist.

Sozialarbeiter: Anreize nehmen

Auf seiner Internetseite klärt Gangway e.V. über Tilidin auf und versucht damit, den Konsumenten die Anreize zu nehmen. "Die meisten Jugendlichen unterschätzen die Gefahr. Die denken, es macht ein bisschen high, sie können lange Sex haben und das war's. Das Suchtpotenzial ist den wenigsten bewusst. Und der Entzug ist genauso hart wie bei Heroinabhängigen."

In der medizinischen Behandlung wird Tilidin gespritzt. Eine Opiatwirkung tritt dabei nicht ein. Beim Missbrauch wird der Stoff dagegen oral eingenommen. Der Effekt: Selbst in Kombination mit Naloxon, einem suchthemmenden Mittel, kann Tilidin so immer noch zu erheblichen euphorischen Zuständen führen - und bietet somit ein starkes Abhängigkeitspotenzial.

Das LKA würde Tilidin gerne im Betäubungsmittelgesetz sehen. Sozialarbeiter Schaffranek sieht darin keine Lösung. "Das ist weder abschreckend, noch erleichtert es die Aufklärung." Der Tilidin-Konsument werde dadurch nur in eine Ecke gedrängt. Ein offener Umgang und die Suche nach Hilfe würden erschwert. Und die Szene interessiert ohnehin nicht, ob der Stoff legal ist oder nicht.

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