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Französische Jugendliche demonstrieren gegen die Arbeitsmarktpolitik der Regierung

© AFP

Jugendproteste in Frankreich: Europa taumelt

Dass Generationenprojekt des vereinten Kontinentes steht vor dem Scheitern, weil fast überall blanker Egoismus regiert. Wer aber die EU gegen die Wand fahren lässt, schadet allen. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Gerd Appenzeller

In den großen Städten Frankreichs versammeln sich seit einigen Wochen beim Einbruch der Nacht jeden Abend hunderte, manchmal tausende von Menschen. Sie treffen sich friedlich und unverabredet in den Zentren. Keine Parolen rufen sie zusammen, keine Parteien stehen dahinter, nein, die Distanz zu den Parteien, zum Etablierten, zur Politik ist geradezu ein Charakteristikum dieser nächtlichen Rencontres. Was sie beim gemeinsamen Singen erleben wollen, beim Sich-Zuhören, bei kurzen Reden, nennen sie  „Nuit débout“, was man als „aufrecht durch die Nacht“ übersetzen könnte.

Was sie verbindet? Der Wille, sich nicht den bedrückenden Lebensumständen, der Arbeitslosigkeit, dem Fehlen von Perspektiven zu ergeben. Die Polizei, die stets präsent ist, wusste zunächst nicht, was sich da entwickelte, war es Krawall, Aufbegehren, Randale? Nein. Es ist, ob in Paris, Marseille oder in Nantes ein gewaltfreier, ein völlig friedlicher Unmut über ein Dasein, gegen ein Frankreich, gegen ein Europa, in dem der Mensch keine entscheidende Rolle mehr zu spielen scheint.

Es ist ein Aufbegehren gegen eine Resignation, die sich nicht nur zwischen Mittelmeer und Ärmelkanal, wenn auch dort am auffallendsten, sondern in vielen Ländern der Europäischen Union breit gemacht hat, ein fragendes „Wozu?“, das auf den Straßen und Plätzen auch in Spanien, Italien und Griechenland fassbar wird. Überall da, wo die Menschen an den leeren Schaukästen geschlossener Ladengeschäfte vorbei gehen und  in die unverglasten Fensterhöhlen von Häuserblöcken starren, deren Eigentümern das Geld zum Weiterbau ausgegangen ist. Und es ist geradezu tragisch, dass dieser friedliche Protest genau in dem Moment in Gewalt umzuschlagen droht, in dem sich die Politik, in dem der verachtete Staatspräsident Francois Hollande mit unglaublicher Dreistigkeit, in unfassbarer Verkennung der Realität, versucht, sich an die Spitze der gegen ihn gerichteten Volksbewegung zu setzen.

Europa hat seine Faszination verloren

Nationales Versagen ist das eine, aber schlimmer noch, weil so weit verbreitet: Europa hat seine  Faszination verloren. Es kann seine Versprechen nicht mehr halten. England, Großbritannien möchte aussteigen aus dem gemeinsamen Boot, will den Brexit, von dem die Befürworter sagen, er würde die Insel endlich wieder frei machen, dessen Gegner indes den Untergang der britischen Wirtschaft menetekelhaft an die Wand malen. In den Niederlanden lehnen die Bürger in einer Volksabstimmung einen europäischen Pakt mit der Ukraine ab – nicht, weil sie etwas gegen die Ukraine hätten, sondern weil sie so ihre Abwendung von alledem demonstrieren wollen, was mit offizieller europäischer Politik zu tun hat.

In Deutschland machen die Bürger Europa und dessen Zentralbank dafür verantwortlich, dass sie für ihre Sparkonten keine Zinsen mehr bekommen, dass die Pläne für die Altersvorsorge zur Makulatur werden. Deutschland selbst wiederum wird in Südeuropa inzwischen als Europas Zwingherr empfunden, dessen Spardiktate Griechenland, Spanien oder Italien in die Katstrophe stürzen. Auch wenn in Spanien eine Jugendarbeitslosigkeit von erschütternden 45 Prozent, oder in Italien mit 40, in Griechenland gar mit 48 Prozent, viel mit unbewältigten strukturellen Problemen der eigenen Wirtschaft zu tun hat, mit falschen Ausbildungsgängen und erstarrten, unflexiblen Arbeitsmärkten – verantwortlich gemacht in der öffentlichen Rede und in den Medien wird dafür nicht eigene Unzulänglichkeit, sondern deutsche Dominanz. Und ein Faktum ist eben, dass deutsche Politik sich in der Finanzkrise der letzten Jahre sehr oft unsensibel, kaltschnäuzig, überheblich artikuliert hat. Der Euro, der die Europäische Union zusammenführen sollte, hat die EU geteilt. Deutschland, der größte Nutznießer der gemeinsamen Währung, fühlt sich als Zahlmeister, und in Italien, Spanien und Griechenland sehnen sich wachsende populistische Kräfte nach den Zeiten währungspolitischer Souveränität.

Es gibt viel Häme gegen Deutschland

Und seit dieses Europa angesichts der gewaltigen Herausforderung durch die Flüchtlinge aus dem Mittleren Osten kein anderes Mittel als den Wiederaufbau von Grenzeinrichtungen findet, ist es auch mit der einstigen Faszination des Europa ohne Grenzen endgültig vorbei. Angela Merkel hat sich durch ihre großzügige, humanitäre Geste vom Anfang September 2015 völlig isoliert, weil sie vergaß, das Vorübergehende der Grenzöffnung zu betonen und auch unterließ, einen sofortigen EU-Gipfel zum Thema Flüchtlinge zu fordern. Jetzt tun ihre  Gegner von Polen bis nach Bayern so, als würde es ohne Merkel überhaupt keine Flüchtlinge geben und verweigern sich damit der Realität. Das Übereinkommen, insgesamt 160.000 Flüchtlinge auf die Länder der EU zu verteilen, ist wirkungsloses Papier geblieben, dessen inhaltliche Selbstverpflichtung von vielen Staaten geradezu höhnisch missachtet wird. Da ist eben auch viel Häme, viel gegen Deutschland gerichtete Schadenfreude dabei – der Zuchtmeister Europas solle, so die Gefühlslage, nun mal selbst klarkommen…

Luxemburgs Außenminister Jean Asselborn sieht das „Friedensprojekt Europäische Union“ gefährdet und warnte in einem flammenden Appell vor dem Rückfall in Nationalismen. Der Präsident des EU-Parlamentes, Martin Schulz, spricht angesichts europafeindlicher Bewegungen vor einer drohenden Implosion der EU. Tatsächlich käme links- wie rechtspopulistischen Bewegungen wie der AfD in Deutschland oder dem Front National in Frankreich ja nichts mehr zupass als ein Auseinanderfallen Europas.

Dass Asselborn Ursachen und Wirkungen miteinander verwechselt – er warnt vor weiteren Volksabstimmungen – macht seine Brandrede nicht obsolet. Aber mit einem Verzicht auf direkte Demokratie und einem Mehr an Brüsseler Bürokratie und autokratischem Handeln der EU-Staats- und Regierungschefs ohne Rückkoppelung in das Europäische und die nationalen Parlamente würde alles nur schlimmer.

Europa leidet ja nicht an einem Zuviel an demokratischer Beteiligung, sondern an einem Zuwenig. Es leidet vor allem am Schwund der für Europa fundamentalen Erkenntnis, gar des Gründungsgedankens, dass es Europa insgesamt nur so lange gut geht, wie alle etwas von Europa haben. Dazu gehört, dass stures Beharren auf dem eigenen Standpunkt noch nie zu einer von allen Beteiligten als gut empfundenen Politik geführt hat. Solange sich aber alle nur noch als Opfer und nicht mehr als Nutznießer Europas sehen, wird das Projekt Europäische Einheit ungebremst dem Abgrund entgegen taumeln.   

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