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KAIRO: Krieg der Lautsprecher

Gehen geht kaum, flanieren gar nicht. Wer in Kairo lebt, der sitzt.

Gehen geht kaum, flanieren gar nicht. Wer in Kairo lebt, der sitzt. Er sitzt zu Hause, sitzt im Auto, sitzt im Büro, sitzt im Restaurant. Bürgersteige, die diesen Namen verdienen, existieren nicht. Wer mit Nachbarn schwätzen will, steht auf der Straße, ständig schieben sich auf Tuchfühlung Autos vorbei. Die Bürgersteige sind von Karossen zugeparkt, von Teehausstühlen zugestellt – oder eine so knochenbrecherische Achterbahn, gegen die jede Wanderung in den Alpen eine entspannte Fußübung ist. Jeder Hausbesitzer pflastert sein Stück nach Gutdünken, zwischendurch geht es mal einen halben Meter abwärts – ach ja, die Tiefgarageneinfahrt. Und was noch vom Gehpflaster übrig bleibt, ist von fliegenden Händlern okkupiert.

Kairo – megaloman und übervölkert, anregend und auslaugend, mit der schlechtesten Luft in ganz Afrika. Und trotzdem eine Metropole mit orientalischem Charme, schier unendlicher Vitalität und ungebrochen guter Laune. Das ganze Jahr scheint die Sonne, so viel Licht und Wärme, das färbt ab auf die Mentalität der Menschen. Ägypter sind freundlich, stets zu einem kleinen Schwätzchen oder Scherz aufgelegt, nur mit Müll und Lärm nehmen sie es nicht so genau. Das urbane Herz Ägyptens ist die schmutzigste Stadt des ganzen Nahen Ostens, offiziell gibt es sechs Millionen Autos, wahrscheinlich sind es sehr viel mehr.

Jeder, der sich hier niederlassen will, steht vor einer Grundsatzentscheidung. Entweder er zieht in die Vorstädte, die sogenannten Compounds, in denen sich eine Villa mit Garten an die andere reiht, ein kühles Lüftchen weht und angenehme Stille herrscht. Jeden Morgen heißt das allerdings anderthalb, vielleicht auch zwei Stunden Stop-and-Go in Richtung Zentrum zum Büro und abends das Gleiche retour. Oder man entscheidet sich für das Innere der 20-Millionen-Metropole, wo die Hitze in den Straßenschluchten steht, nachts die Klimaanlagen der Nachbarn rattern.

Und dazu die rund um die Uhr krächzenden und pfeifenden Gebetsrufe aus zehntausenden billiger Lautsprecher dröhnen. Kairo ist die Stadt der tausend Minarette, aber auch die Stadt der geschätzten 50 000 Garagenmoscheen. Morgens kurz nach drei erhebt sich zum ersten Mal das fromme Gequäke und Gesumme. Fünfmal pro Tag tobt der „Krieg der Lautsprecher“ und alle Versuche der Regierung, die Kakophonie im Namen Allahs zu beenden, sind bisher gescheitert. Der Nebenerwerbs-Iman nahe dem Fini-Platz in Dokki jedenfalls, der gleich drei große Lautsprecher hoch oben an der Grenze zum Himmel betreibt, kann die ganze Aufregung nicht verstehen. Dass er morgens die gesamte Nachbarschaft für seine Handvoll Frühbeter aus dem Schlaf reißt, quittiert er nur mit grinsendem Achselzucken. Er rufe seit 25 Jahren und würde das gerne noch weitere 25 Jahre tun, wenn Allah ihm das vergönne. Und wem das nicht passe, meint er, der könne ja wegziehen. Martin Gehlen

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