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Hau ab, Charest! Studenten in Montreal protestieren gegen den Provinzchef von Quebec

© Ryan Remiorz/AP/dpad

Kanada: Das Recht auf die Straße

Erst ging es den Studenten um Studiengebühren, jetzt geht es ums Prinzip – und um Kanadas Einheit

Es begann vor mehr als 100 Tagen als Studentenprotest. Doch der Aufstand gegen höhere Studiengebühren in der überwiegend frankophonen kanadischen Provinz Quebec hat sich nun zum Kampf für Bürgerrechte und Demonstrationsfreiheit entwickelt und die liberal-konservative Provinzregierung Jean Charests in die Krise gestürzt. Das könnte der separatistischen Parti Québecois helfen, wieder an die Regierung zu kommen – mit neuen Debatten über Kanadas Einheit.
Bis zu 200 000 Menschen demonstrierten Mitte der Woche in Montreal gegen das Sondergesetz 78, das vorübergehend die Demonstrationsrechte einschränkt. Seit drei Monaten verfolgen die Kanadier den wachsenden Konflikt: Demonstrationen in Montreal und Quebec-City, in manchen Nächten Festnahmen von mehreren hundert Demonstranten, Polizisten in Kampfanzügen mit Schutzschild und Gummiknüppel, Rauchbomben und zertrümmerte Scheiben in den Innenstädten.
Waren die Quebecer in ihrer Mehrzahl bisher auf der Seite der Provinzregierung, die Härte gegenüber den Studenten und einer kleinen Minderheit von Krawallmachern demonstrierte, so hat die Regierung Charest durch ungeschicktes Taktieren in den vergangenen Tagen offenbar erheblich Boden verloren: Sie schränkte das Demonstrationsrecht ein und brachte in der für Aufmüpfigkeit bekannten Provinz und in anderen Teilen des Landes Bürgerrechtsorganisationen, Gewerkschaften und Lehrerverbände gegen sich auf. „Wir kümmern uns nicht um das Sondergesetz“, skandierten Demonstranten in Montreal. Auf Transparenten hieß es: „Charest, das ist dein Waterloo.“
Auslöser der Unruhen, die seit März den Universitätsbetrieb in der Provinz lahmlegen,
waren geplante Erhöhungen der Studiengebühren in Quebec in den kommenden Jahren um jeweils 325 Dollar. Quebecs Studenten würden 2017 dann jährlich Gebühren von 3793 Dollar zahlen. Aber selbst dann hätte Quebec mit knapp über 2000 Dollar noch die niedrigsten Studiengebühren im Land. Anderswo liegen sie teils über 5000 Dollar. Die Studenten fürchten aber eine Abkehr von Quebecs Politik, Universitätsausbildung allen Einkommensschichten zu ermöglichen.
Joel Pedneault vom Studentenverband der McGill-Universität in Montreal sieht denn auch in der Lage in anderen Provinzen den Grund dafür, dass die Proteste zunächst auf völliges Unverständnis stießen. Als vor einem Monat die Proteste erstmals zu Sachbeschädigungen führten, konnte die Regierung Charest in Meinungsumfragen sogar noch zulegen. Sie schien sich aus einem Popularitätstief zu befreien, in das sie durch Kürzungen, vor allem aber durch Korruptionsskandale in Quebecs Bauindustrie gefallen war.
Dann aber goss die Regierung Öl ins Feuer. Um angesichts der Touristensaison und der Sommerfestivals Ruhe und Ordnung in den Städten zu haben, verabschiedete die Nationalversammlung in Quebec das Gesetz 78, wonach Demonstrationen mit mehr als 50 Teilnehmern acht Stunden vorher mit Angaben über Demonstrationsroute und Dauer angemeldet werden müssen. Verstöße werden mit Strafen von mehreren hundert Dollar belegt, Studentenorganisationen mit Strafen bis 125 000 Dollar.
In einigen europäischen Ländern gingen die gesetzlichen Regeln für Demonstrationen viel weiter, erklärte Sicherheitsminister Robert Dutil. Es half nichts. Die Demonstrationsbewegung gewann über Nacht an Fahrt. Der bisherige Höhepunkt war der Massenprotest am Dienstag in Montreal. Mit den bis dahin weitgehend isolierten Studenten solidarisierten sich nun Gewerkschaften und Lehrerverbände, nationalistische Gruppen und Bürgerrechtsorganisationen, die im Gesetz 78 einen Angriff auf Freiheitsrechte sehen. „Dieses Gesetz verletzt zweifellos die Charta der Freiheitsrechte“, sagt der Montrealer Verfassungsrechtler Julius Grey. Klagen gegen das Gesetz sind schon in Vorbereitung.

Schon vor den Protesten war es fraglich, ob die Provinzregierung der pro-kanadischen Liberalen von Charest bei Wahlen, die spätestens im kommenden Jahr stattfinden müssen, im Amt bestätigt wird. Nun scheint die Parti Québecois, die 1980 und 1995 zwei Unabhängigkeitsreferenden ausgerufen hatte, an Zulauf zu gewinnen. Die Vorsitzende Pauline Marois hat zwar bisher kein neues Souveränitätsreferendum im Falle eines Wahlsiegs in Aussicht gestellt. Sie tendiert eher dazu, innerhalb Kanadas mehr Souveränität zu verlangen. Das aber könnte die Animositäten zwischen den anglophonen Provinzen und Quebec verschärfen. Seit etwa zehn Jahren herrschte an dieser Front weitgehend Ruhe. Die Quebecer Proteste könnten dies ändern.

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