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Kardinal Rainer Maria Woelki: „Alle müssen faire Verfahren bekommen“

Der Kölner Kardinal Rainer Maria Woelki hält nichts davon, Balkanländer zu sicheren Herkunftsstaaten zu erklären. Besser wäre, die Armut dort zu bekämpfen.

Herr Kardinal, Sie sind mit Caritas International in Albanien und im Kosovo unterwegs, um sich über die Lage dort zu informieren. Wie geht es den Menschen?

Albanien ist ein wunderschönes Land mit Bodenschätzen und viel Wasser – so viel Wasser, dass man über den Bau von Wasserkraftwerken die gesamte Energie für Albanien erzeugen könnte. Jetzt ist Energie so teuer, dass die Menschen schon allein dadurch in den Ruin getrieben werden. Außerdem sind alle gesellschaftlichen Bereiche von Korruption durchzogen, auch die Gesundheitsversorgung. Es gibt zwar eine Krankenversicherung, aber die zahlt nur, wenn man kurz vor dem Tod steht. Normalerweise muss ich alles selbst bezahlen, wenn ich ins Krankenhaus gehe, auch die Reinigungskraft. Und der Arzt will noch extra geschmiert werden. Die alten politischen Kader sind immer noch an der Macht, die Kluft zwischen Arm und Reich ist extrem groß. Die Arbeitslosigkeit liegt zwischen 40 und 70 Prozent. Die Leute haben überhaupt keine Perspektive.

Verstehen Sie, dass viele weggehen?

Ein Mann hat mir erzählt, dass er nach Frankreich gegangen ist, weil sein kleiner Junge schwer krank war und in Albanien ihn niemand behandeln wollte. In Frankreich hat man ihn sechsmal operiert, jetzt ist der Junge gesund. Würden das nicht alle Eltern für ihr Kind tun?

Was halten Sie von der Idee, Albanien und Kosovo zu sicheren Herkunftsländern zu erklären, um die Asylsuchenden von dort sofort zurückschicken zu können?

Das Asylrecht ist kein geeignetes Mittel, um die Armut auf dem Balkan zu bekämpfen. Auch die Menschen von hier müssen weiterhin faire und unvoreingenommene Verfahren in Deutschland bekommen. In Albanien gibt es in der Regel keine politische Verfolgung. Trotzdem muss jedes Verfahren geprüft werden. Aber das muss schneller erfolgen als jetzt. Das darf nicht vier oder gar zehn Monate dauern. Die Albaner sagen mir: Es stimmt nicht, dass wir keine Aussicht haben, in Deutschland bleiben zu dürfen. Der Nachbar ist doch schon seit zehn Monaten dort. Wir versuchen es einfach auch. Wenn wir zurückgeschickt werden, haben wir halt Pech. Aber vielen gelingt es eben doch.

Was wird den Menschen versprochen?

Viele haben ja auch hier Internetzugang und sehen, wie der Wohlstand im Westen gewachsen ist. Sie wollen daran partizipieren. Viele haben Familienmitglieder in der Schweiz und in Deutschland, die im Kosovo-Krieg geflohen sind. Ich sehe viele Autos mit deutschen und Schweizer Nummernschildern. Das sind Urlauber, die machen jetzt in der alten Heimat Ferien. Viele haben hier Häuser gebaut und unterstützen ihre Familien hier.

Was ist zu tun?

Man kann Albanien nicht den Status eines EU-Beitrittskandidaten geben, hier und da eine Autobahn bauen und das war's. Die europäischen Institutionen müssen das Land eng begleiten, Hilfestellungen geben, Korruption bekämpfen, darauf achten, dass wirklich demokratische Strukturen aufgebaut werden. Die EU muss dringend die Armut hier bekämpfen und in ein Bildungssystem investieren. Es gibt hier zwar mehr als hundert Hochschulen, aber die sind vor allem darauf aus, Geschäfte zu machen. Studenten zahlen 1200 Euro pro Semester, aber was rauskommt, entspricht dem nicht. Es muss in Handwerksberufe und Dienstleistungssysteme investiert werden, damit eine Mittelschicht heranwächst. Niemand verlässt seine Heimat gern. Auch die Menschen hier nicht.

Wird es Menschen abhalten, nach Deutschland zu kommen, wenn man ihnen das Taschengeld kürzt?

Auch das ist eine Scheindiskussion. Die Europäer haben sich auf Asylrechtslinien verständigt, zum Beispiel was die Verfahren und die Unterbringung von Flüchtlingen angeht. Die müssen endlich umgesetzt werden. Es kann nicht sein, dass sich jedes Land nur das herauspickt, was ihm selbst nützt, und den Rest sein lässt. Das beschädigt auf Dauer den europäischen Gedanken.

Ungarn baut gerade einen Zaun, um Flüchtlinge abzuhalten.

Mit dem Bau von Mauern und Zäunen lassen sich diese Probleme nicht lösen. Das ist für Europa unwürdig und menschenverachtend. Wir leben in einer Welt, und die Wege werden kürzer. Die Menschen nehmen wahr, wie der Wohlstand in Westeuropa gewachsen ist. Sie haben ein Anrecht auf Teilhabe. Deshalb müssen wir in Deutschland neben dem Asylrecht Voraussetzungen für eine legale Einwanderung schaffen. Wenn der Bundesinnenminister sagt, dass es schon ausreichende Regelungen gibt, dann lasst uns eben diese Regeln zusammenfassen in einem klaren, transparenten Gesetz. Damit signalisiert man den potenziellen Zuwanderern auch: Ihr seid willkommen.

Das Gespräch führte Claudia Keller.

Kardinal Rainer Maria Woelki, 59, ist Erzbischof von Köln und Vorsitzender der Caritas-Kommission der Bischofskonferenz. Von 2011 bis 2014 war er Erzbischof von Berlin.

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