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Karl Lauterbach

© Uwe Steinert

Karl Lauterbach: „Das ist das Erbe von Helmut Kohl“

Karl Lauterbach (SPD) im Tagesspiegel-Interview über die neue Linke, die Koalition und seine These vom Zwei-Klassen-Staat.

Von

Hat die SPD versagt, Herr Lauterbach?

Von Versagen kann keine Rede sein. Wie kommen Sie darauf, dass ich dieser Meinung sein könnte?

Sie beschreiben Deutschland in Ihrem neuen Buch als Zwei-Klassen-Staat, der von „den Privilegierten ruiniert“ wird. Das ist doch eine verheerende Bilanz für eine Regierungspartei.

Die Bilanz ist nicht die Bilanz der SPD. Was ich in meinem Buch beklage, ist in erster Linie das Erbe von Helmut Kohl. Die meisten Probleme des Landes sind in den achtziger Jahren deutlich schlimmer geworden. Die Folgen werden wir bald zu spüren bekommen, wenn jetzt nichts geschieht. Deutschland, das alternde, schrumpfende Land, wird seine ökonomische Basis verlieren.

Was macht Sie so sicher?

Wir erleben jetzt womöglich den letzten großen Aufschwung in Deutschland. In ein paar Jahren werden die gut ausgebildeten Generationen, die in den fünfziger und sechziger Jahren geboren wurden, den Zenit ihrer Produktivität überschritten haben. In 15 Jahren werden nur noch halb so viele Talente die Hochschulen verlassen. Unser Bildungssystem leistet weder Herausragendes an der Spitze, noch bereitet es die Jugend auf die Globalisierung vor. Unser Gesundheitssystem ist zu teuer und privilegiert nur eine Minderheit, und unser Renten- und Pflegesystem sichert nur die Zukunft von wenigen. Dieser Mangel an Qualität und Gerechtigkeit wird uns ökonomisch weit zurückwerfen.

Nach 1998 hatte die Schröder-SPD doch sieben Jahre Zeit, diese Entwicklung zu bekämpfen.

Nach 1998 konnte Rot-Grün wichtige Reformen wie die Bürgerversicherung oder eine Bildungsreform nicht durchsetzen, weil wir in den Ländern keine Mehrheit hatten.

Kohl und die Union sind an allem schuld?

Die SPD hat zu wenig Druck gemacht, um den Zwei-Klassen-Staat zu überwinden, das stimmt schon. Aber wir haben ihn nicht aufgebaut, und wir verteidigen ihn nicht. Das tut die Union, und sie tut es sehr geschickt. Bis heute stabilisiert sie auf Länderebene etwa das dreigliedrige Schulsystem, das mit verantwortlich ist für die himmelschreiende Chancenungleichheit der Kinder.

Wer sind denn die Privilegierten, die Sie anklagen?

In erster Linie sind es die, die ererbte Privilegien haben.

Nämlich?

Weil es in Deutschland keine ordentliche Vorschulbildung gibt, sind die meisten Kinder aus Arbeiter- und Migrantenfamilien schon im Nachteil gegenüber Akademikerkindern, wenn die Schule losgeht. Ihre Zukunft liegt beinahe ausweglos in der Hauptschule, das Gymnasium schaffen die wenigsten, obwohl sie oft die intellektuellen Voraussetzungen dafür gehabt hätten. In den Gymnasien sitzen dafür die Akademikerkinder. Und zwar nicht selten nur deshalb, weil ihre Eltern ihnen dazu verholfen haben.

Was ist verwerflich daran, wenn Akademiker ihren Kindern zu einer guten Schulbildung verhelfen?

Wer heute seine Kinder fast naturgemäß aufs Gymnasium schicken kann, der hat kein Interesse an der Reform des Bildungswesens. 85 Prozent der Beamtenkinder sind Gymnasiasten. Wer Akademikereltern hat, wird in den meisten Fällen studieren können. Bei gleicher Begabung steht dieser Weg nur einem Sechstel der Arbeiterkinder offen. Unser System bugsiert weniger begabte Kinder in höhere Bildungswege und versperrt diese Wege den wirklich begabten Arbeiterkindern. Das ist ungerecht und ökonomisch schädlich.

Welche Lehre müsste die SPD aus Ihrer Diagnose ziehen?

Wir dürfen die Ausprägung des Zwei- Klassen-Staates und die katastrophalen Auswirkungen für die Zukunft nicht länger unterschätzen. Der SPD erwächst hier eine historische Aufgabe: Sie muss alles daransetzen, den Zwei-Klassen- Staat zu überwinden. Die Linkspartei wird das nicht tun, denn sie lebt vom Zwei-Klassen-Staat. Die Union wird es nicht tun, weil die Mehrheit ihrer Wähler Privilegierte sind. Die FDP ist eine verkrustete Verbände-Partei, und die Grünen sind auf den Umweltschutz fokussiert. Nur die Sozialdemokratie kann das Land kurieren.

Welche Therapie schlagen Sie vor?

Die Behandlung muss sofort erfolgen und wird trotzdem langwierig. 20 Jahre Reformpolitik stehen uns bevor, denn die wichtigsten Reformen, die das Land globalisierungsfest machen, haben noch gar nicht begonnen. Wir brauchen ein Bildungssystem, das mit der Vorschule beginnt. Das ist das Wichtigste. Alle Kinder müssen – und zwar verpflichtend – mit dem dritten Lebensjahr eine Vorschule mit Bildungsauftrag besuchen. Nur so werden wir in der Schule die richtigen Talente entwickeln können. Die Gesellschaft muss erkennen, dass viele Eltern die Bildung ihrer Kinder in der dafür wichtigsten Lebensphase, also im Alter zwischen zwei und vier, nicht fördern können. Da diese Förderung jedoch existenziell für die Zukunft der Gesellschaft ist, muss der Staat handeln.

Ist sich die SPD ihrer historischen Aufgabe schon bewusst?

Die Sozialdemokraten haben mit Willy Brandt bereits eine große Bildungsoffensive durchgesetzt. Jetzt realisieren wir in Berlin zunehmend, dass die notwendigen Reformen mit der Union nicht umzusetzen sind.

War das ein Plädoyer für den Ausstieg aus der großen Koalition, womöglich mithilfe der Linkspartei?

Jetzt geht es erst einmal darum klarzumachen, dass die Union Politik für zehn Prozent der Bevölkerung macht, nämlich für die Privilegierten. Bei der Gesundheitsreform hat nur die SPD für die Interessen der gesetzlich Versicherten gekämpft. Das müssen wir deutlich sagen. Die SPD schont derzeit die Union, anstatt klar zu sagen, dass sie viele dieser Probleme verursacht. Damit muss Schluss sein. Nur weil wir mit der Union in einer Koalition regieren, können wir deren Fehler nicht decken. Die SPD muss deutlichmachen, dass die Union ihr Regierungsmandat auch dazu missbraucht, die Privilegierten im Land weiter zu schützen – zum Schaden der gesamten Gesellschaft.

Sie tun gerade so, als sei die SPD an der Gesundheitsreform nicht beteiligt gewesen.

Die Gesundheitsreform war eine verlorene Chance im Kampf gegen die Zwei-Klassen-Medizin. Weder die ungleiche Bezahlung von Ärzten für die Behandlung gesetzlich und privat Versicherter noch die Privilegien der privat Versicherten sind abgeschafft worden. Wir Sozialdemokraten haben aktiv dafür gekämpft, aber die Union hat es abgelehnt.

Die Rente mit 67 von Arbeitsminister Franz Müntefering (SPD) findet in Ihrem Buch aber auch keine Gnade.

Die Rente mit 67 ist grundsätzlich kein falscher Beschluss. Aber sie hätte einhergehen müssen mit einer deutlichen Verbesserung der Erwerbsminderungsrente. Denn es gibt viele Menschen, die mit 60 aus gesundheitlichen Gründen oder weil sie keinen Job mehr finden nicht mehr arbeiten können. Und für diese Menschen ist die Rente mit 67 nichts anderes als eine deutliche Rentenkürzung. Die Ungerechtigkeiten der Rente mit 67 für Kranke und sozial Schwache werden wir jetzt beseitigen.

Wie will die SPD bei der Bundestagswahl aus der großen Koalition heraus erfolgreich sein, wenn sie deren Reformen permanent infrage stellt?

Die SPD kann aus ihrem 30-Prozent- Turm nur herausfinden, wenn sie sehr klar und deutlich sagt, dass sie die Interessen der Mehrheit vertritt und keinen weiteren Schutz der Privilegierten durch die Union hinnehmen wird. Es kann nicht so weitergehen, dass die Union den Zwei- Klassen-Staat heimlich verteidigt, ohne sich dafür rechtfertigen zu müssen. Das muss die SPD entlarven. Wir würden damit nach rechts wie links gewinnen. Die Linken wären darin gestellt, dass sie keinen einzigen pragmatischen Lösungsvorschlag haben, und die Union, weil sie nicht die Interessen der leistungsorientierten Mitte, sondern der wenigen Privilegierten verteidigt.

Wenn Prinzipientreue für SPD und Union in Zukunft vor Kompromissfähigkeit geht, wird die große Koalition in dieser Wahlperiode nicht mehr viel zuwege bringen. Wie wollen Sie den Stillstand, etwa bei der Pflegereform, vor den Wählern verantworten?

Stillstand können wir uns auf keinen Fall leisten. Wir müssen eine Pflegereform beschließen. Das Wichtigste ist eine Verbesserung der Qualität der Versorgung bei Demenzkranken und in der ambulanten Pflege.

Das heißt, Sie geben sich mit einer Minireform zufrieden, bei der nur die Beiträge angehoben werden?

Wenn der Beitragssatz steigt, weil die Qualität der Pflege sich verbessert, geht das in Ordnung. Das ist besser als ein fauler Kompromiss bei der Finanzierung des Systems.

Lieber kein Ergebnis, als der Gegenseite Zugeständnisse zu machen – ist das verantwortliche Politik?

Die Union will den Koalitionsvertrag bei der Pflege brechen. Sie lehnt eine nennenswerte Beteiligung der Privatversicherten am Finanzausgleich ab, obwohl dies im Koalitionsvertrag steht. Unter diesen Bedingungen kann es die von der Union gewünschte Kapitaldeckung natürlich auch nicht geben. Die SPD ist nicht der Bittsteller für die gesetzlich Versicherten gegenüber der Union. Das haben wir nicht nötig. Wenn die Union Politik für zehn Prozent der Versicherten machen will, dann muss sie damit rechnen, demnächst auch nur noch von diesen zehn Prozent gewählt zu werden. Das muss auch Frau Merkel wissen.

Sie haben eine große Reform also schon abgeschrieben.

Das Wichtigste ist die Hilfe für die Pflegebedürftigen. Das setzt Ulla Schmidt durch, da bin ich sicher.

Mit der Beitragserhöhung ist die Finanzierung des Pflegesystems auf Dauer aber doch nicht gesichert.

Das stimmt. Mittelfristig brauchen wir für die Gesundheitsversorgung und die Pflege einen höheren Steueranteil an der Finanzierung. Außerdem müssen sich die Privatversicherten am Solidarsystem beteiligen. Heute ist das Pflegerisiko der einkommensschwachen Bevölkerungsschicht wesentlich höher als das der Vermögenden. Trotzdem beteiligen sich die privat Versicherten am Pflegerisiko der Mehrheit mit keinem Cent. Das muss beendet werden.

Im Bundestag gibt es eine linke Mehrheit. Wenn der Zwei-Klassen-Staat so verheerende Folgen für Deutschland hat, wie Sie sagen, müssten sie eigentlich bereit sein, zu seiner Überwindung eine Koalition mit der Linkspartei und den Grünen einzugehen.

Zunächst müssen wir stärkste Kraft im Bundestag werden. Die Konzentration auf die Überwindung des Zwei-Klassen- Staates wird der SPD das möglich machen. Das Schielen auf die Linkspartei bringt uns da nicht weiter.

Wann ist die Zeit denn reif für ein Linksbündnis?

Was in fünf oder zehn Jahren ist, steht jetzt nicht zur Debatte. Die SPD muss sich offensiv mit der Linkspartei auseinandersetzen. Wir müssen uns wehren. Wir müssen klar aufzeigen, dass die Linkspartei keine inhaltlichen Vorschläge zur Lösung der Probleme des Landes hat.

Da Sie gewagte Vorhersagen offenbar nicht scheuen, noch eine letzte Frage: Kann die SPD mit Kurt Beck als Kanzlerkandidat die Wahl gewinnen?

Kein Ministerpräsident hat mehr für die frühkindliche Bildung getan als Kurt Beck. Er war es auch, der die SPD vor wenigen Monaten auf das Ziel ausgerichtet hat, zur Partei der Leistungsträger zu werden. Eine solche SPD muss sich zum Interessenvertreter derer machen, denen bisher die Geburt den sozialen Aufstieg versperrt. Wenn Kurt Beck dieses Thema konsequent weiterverfolgt, wird er Kanzler werden.

Das Gespräch führten Stephan Haselberger und Antje Sirleschtov. Das Foto machte Uwe Steinert.

Zur Person:

DER PROFESSOR

Der 43-Jährige war jahrelang der wichtigste Berater von Gesundheitsministerin Ulla Schmidt. Er gehörte von 1999 bis 2005 dem Sachverständigenrat zur Begutachtung des Gesundheitswesens an und war Mitglied der Rürup-Kommission.

DER GENOSSE

2005 beschloss Lauterbach, selbst in die Politik zu gehen. Er wurde direkt für den Wahlkreis Köln-Mühlheim/Leverkusen in den Bundestag gewählt. Die Gesundheitspolitik blieb sein Thema.

DER KRITIKER

Die Gesundheitsreform entfremdete Lauterbach seiner Fraktion. Er war schwer enttäuscht, dass die SPD in der Koalition mit der Bürgerversicherung gescheitert ist.

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