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Politik: Karriere über Kinderleichen

Von Paul Kreiner, Wien Zwei Urnen werden am Sonntagnachmittag auf dem Wiener Zentralfriedhof bestattet. Sie enthalten – selten trifft dieser Ausdruck besser und härter – die sterblichen Überreste von Kindern, die zwischen 1940 und 1945 im Rahmen der Nazi-Euthanasie sterben mussten: gefoltert, ausgehungert, erschlagen, vergiftet, „abgespritzt“ mit tödlichen Injektionen, unter anderem zur Entwicklung von Tbc-Impfungen.

Von Paul Kreiner, Wien

Zwei Urnen werden am Sonntagnachmittag auf dem Wiener Zentralfriedhof bestattet. Sie enthalten – selten trifft dieser Ausdruck besser und härter – die sterblichen Überreste von Kindern, die zwischen 1940 und 1945 im Rahmen der Nazi-Euthanasie sterben mussten: gefoltert, ausgehungert, erschlagen, vergiftet, „abgespritzt“ mit tödlichen Injektionen, unter anderem zur Entwicklung von Tbc-Impfungen. Etwa 790 Kinder wurden ermordet damals, in der Wiener psychiatrischen Klinik am Steinhof, in deren „Kinderfachabteilung Am Spiegelgrund". Es waren geistig und körperlich Behinderte, Missgebildete, auch „schwer Erziehbare“, oft uneheliche Pflegekinder, mit denen die neuen Eltern nicht zurecht kamen.

Die Ärzte beteiligten sich eifrig an der „wissenschaftlichen Erfassung von erb- und anlagebedingten schweren Leiden debiler, bildungsunfähiger Minderjähriger“ – und sie weideten die Leichen „zu Forschungszwecken“ aus. Die Präparate der „abnormen“ Gehirne und Rückenmarksstränge dienten zum Teil noch jahrzehntelang der medizinischen Ausbildung in Wien. Erst vor einem halben Jahr hat man auf dem Dachboden eines Forschungsinstituts Zehntausende von Gewebeschnitten für mikroskopische Studien gefunden, alle vom Spiegelgrund.

Interessiert hat sich lange niemand für die Herkunft der Studienobjekte. Österreich betrachtete sich ja als erstes Opfer Hitlers, also als unschuldig. Damit war die eigene Vergangenheit rein gewaschen, Aufklärungsbedarf gab es nicht. In Wien kam ein besonderer Aspekt dazu. Zwar hatte man Ernst Illing, den Leiter der „Kinderfachabteilung“, 1946 hingerichtet, eine weitere Ärztin zehn Jahre ins Gefängnis geschickt. Ein weiterer Arzt aber, Heinrich Gross, konnte 1950/51 nicht nur die Niederschlagung seines Verfahrens erreichen, sondern stieg durch Protektion seiner dann „roten“ Parteigenossen im „roten“ Wien immer höher auf.

Das Ludwig-Boltzmann-Institut, eine in Österreich renommierte Großforschungsstätte, richtete eigens für Gross ein „Institut zur Erforschung zerebraler Missbildungen“ ein. Dort konnte er an seinen alten Gehirnpräparaten weiterarbeiten. Außerdem avancierte Gross zum führenden psychiatrischen Gerichtsgutachter des Landes. An 12 000 Urteilen soll er mitgewirkt und mehr als zwei Millionen Euro verdient haben. Erst in den achtziger Jahren wurden Zweifel an Gross laut. Ein kritischer Kollege, ein deutscher, promovierender Medizinstudent, dazu einige Privatkläger und Überlebende, die sich in erschütternden Berichten an die Öffentlichkeit wagten, erzwangen die erneute Öffnung der Spiegelgrund-Akte.

Man stieg in die Keller der Anstalt und verschiedener Universitätsinstitute und förderte 428 Gehirnpräparate zu Tage. Erst jetzt entschloss man sich, die Überlebenden vom Spiegelgrund als Nazi-Opfer anzuerkennen und ihnen – kleine – Renten zuzusprechen. Zuvor hatten die Behörden argumentiert, für Behinderte, schwer Erziehbare oder für Menschen, die sich eines „während des NS-Regimes nicht geduldeten Verhaltens“ schuldig gemacht hätten, wäre ein Heimaufenthalt damals ohnehin nötig gewesen.

Anklage gegen Gross wurde dennoch erst 1998 erhoben – und noch unter Mordverdacht durfte er Gerichtsgutachten erstellen. Der Prozess wurde 1999 eröffnet, stockte aber wegen Verhandlungsunfähigkeit des heute 88-Jährigen; gleichwohl gab er nach Unterbrechung seines Verfahrens ein sehr munteres Fernsehinterview in einem Kaffeehaus. Dennoch rechnet das Gericht nicht mehr mit einer Fortführung des Prozesses; es gab die Gehirnpräparate frei, und Wien entschloss sich, die Überreste zu beerdigen.

Nur ein Dutzend Angehöriger hat sich auf Suchanzeigen gemeldet. Viele wollten nicht an das Schicksal ihrer Familienmitglieder erinnert werden. So sind im Einvernehmen mit den Beteiligten 597 Urnen beigesetzt worden. Die zwei verbliebenen, die heute bestattet werden, stehen symbolisch für alle.

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