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Kaukasus: Wo das Leben zur Folter wird

Moskau führt im Kaukasus einen Krieg, der immer neuen Terror produziert. Ein Besuch in den Bergen von Dagestan.

Aus seinen Worten klingt Wut. Der Blick seiner grünen Augen schwankt zwischen trotziger Entschlossenheit und kurzen Momenten der Verzweiflung. Rasul Magomedow sitzt auf dem Teppich seines frisch renovierten Wohnzimmers. Tochter Mariam hatte es liebevoll eingerichtet, in hellem Beige, mit bequemen Polstersesseln, in der Ecke ein Flachbildschirm. Doch nun ist Mariam tot. Sie sprengte sich am 29. März in der Moskauer Metro in die Luft, mehr als 1000 Kilometer entfernt von ihrem kleinen Heimatdorf Balachani in den Bergen von Dagestan.

Dies zumindest ist die offizielle Version. Rasul und seiner Frau Patima fällt es schwer, sie zu glauben. Ihre 28-jährige Tochter stand mit beiden Beinen im Leben, war stets Klassenbeste, studierte Mathematik und Psychologie. Zuletzt arbeitete sie wie ihre Eltern in der Dorfschule von Balachani. Mariam unterrichtete Informatik, ihre Mutter Biologie, ihr Vater russische Geschichte, Sprache und Literatur. Zusammen verdienten sie mehr als 1000 Dollar im Monat. Ein gutes Einkommen, leben die meisten Dorfbewohner hier doch fast ausschließlich von ihren Schafen und Kühen, ihren Obst- und Gemüsegärten.

Doch vor fünf Jahren zogen dunkle Wolken über Magomedows Familie auf. Sein älterer Sohn Anwar wurde in Dagestans Hauptstadt Machatschkala von Sicherheitskräften festgenommen, eine Nacht lang gefoltert und morgens in einem Waldstück ausgesetzt. „Sie haben ihn an den Füssen aufgehängt, an seinem Körper war keine einzige lebendige Stelle mehr“, sagt Magomedow. 2008 ereilte den jüngeren Sohn Iljas das gleiche Schicksal. Die Behörden warfen beiden Brüdern die Mitgliedschaft in einem Dschamaat – einer bewaffneten Muslimgemeinschaft – vor. Beweisen konnten sie dies aber nicht. Iljas musste dennoch neun Monate ins Gefängnis für den angeblichen Besitz einer Granate. Diese sei ihm untergeschoben worden, sagt sein Vater, der eine Klage in Straßburg eingereicht hat. Nach seiner Entlassung ging Iljas ein Jahr nicht ohne Begleitung aus dem Elternhaus. „Solche Leute, denen man nichts beweisen konnte, verschwinden bei uns. Kein Mensch – kein Problem“, erklärt Magomedow.

Die russischen Sicherheitsdienste sehen dies anders. Der ältere Sohn Anwar etwa soll zum Dschamaat des Nachbardorfes Gimry gehört haben. Der dortige Bürgermeister Aljasa Magomedow bestätigt dies aber nicht. Er hat sowieso eine eigene Sicht der Dinge: „Das Dschamaat handelte wie einst Robin Hood“, meint der Dorfchef. Die Muslimbrüder klopften korrupten Beamten auf die Finger.

Der 47-jährige Gemeindevorsteher streicht sich über den grauen Bart. Von der Terrasse seines bescheidenen Hauses hoch über dem weiten Bergtal lässt er den Blick schweifen. Dann zeigt er auf den Fluss, der seit kurzem Teil eines Stausees ist. „Sie haben unser Land, unsere Aprikosengärten unter Wasser gesetzt. Die Kompensationszahlungen dafür haben wir bis heute nicht erhalten“, klagt der Bürgermeister. Die Hälfte der Moskauer Finanztransfers nach Dagestan würden im Korruptionssumpf versinken.

Vor zwei Jahren wurde Gimry acht Monate lang von russischen Antiterroreinheiten eingekreist. Niemand durfte das Dorf verlassen, während die Soldaten immer wieder die Häuser durchsuchten. Drei Monate lang gab es kein fließendes Wasser, und die 3000 Einwohner konnten nicht in ihre Gärten, um die Dattelpflaumen zu ernten. Solche Kollektivstrafen sind in Dagestan an der Tagesordnung und tragen mit zum Unmut der einfachen Bevölkerung bei. „Die Russen halten uns für rückständige Wilde. Sie würden uns eher alle umbringen, als das Territorium abzugeben“, meint der Bürgermeister.

In Gimry ist der Geist des Widerstandes stark verankert. Das auf einem hohen Hügel gelegene Dorf ist der Geburtsort von Imam Schamil, der im 19. Jahrhundert die Dagestaner und die benachbarten Tschetschenen im Kampf gegen das russische Zarenreich anführte. Auch damals diente der Islam als Befreiungsideologie. Doch um sich von den moskautreuen Muslimen abzugrenzen, hat sich der Widerstand vom traditionellen Sufismus – einer spirituellen Islamrichtung – verabschiedet. Unter Leitung des tschetschenischen Rebellenführers Doku Umarow propagieren die Aufständischen nun den Salafismus. Ihr Ziel ist die Bildung eines islamischen Kalifats im Nordkaukasus.

Die Hälfte der Jugendlichen im Dorf sympathisierten mit Umarow, sagt Bürgermeister Magomedow. Ein Grund dafür sei die soziale Lage: „Mehr als 300 junge Männer sind im heiratsfähigen Alter. Doch sie haben keine Arbeit und kein Geld für ein eigenes Heim.“ Im autoritär regierten Russland gibt es keine Möglichkeit, diesem Frust bei Wahlen Luft zu machen. Also suchen die Menschen Hoffnung in islamischen Heilsversprechen.

Hinzu kommen die groben Methoden der russischen Sicherheitsdienste, die beim kleinsten Verdacht foltern. Jeder gefasste Terrorist steigert die Karrierechancen eines Polizisten. Unter dem im Juni 2009 erschossenen Innenminister Adilgerej Magomedtagirow seien den Burschen Schläuche in den Darmausgang getrieben worden, erzählt ein alter Mann in Gimry. Durch die Röhre wurde Stacheldraht eingeführt, um dann den Schlauch langsam zurück zu ziehen. Mit leiser Stimme fügt der Rentner hinzu: „Manche haben sich danach umgebracht.“

Christian Weisflog[Machatschkala]

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