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Politik: Kein Asylgrund?

Vor dem EU-Innenministerrat gibt es Kritik an der deutschen Widerrufspraxis bei irakischen Flüchtlingen

Berlin - Wenn der EU-Innenministerrat sich bei seinem zweitägigen Treffen an diesem Donnerstag und Freitag auch mit der irakischen Flüchtlingsfrage beschäftigt, hat Deutschland eine besondere Rolle. Einerseits hat das Land der aktuellen Ratspräsidentschaft nach Angaben des UN-Flüchtlingshilfswerks UNHCR seit den 90ern mit knapp 53 000 Menschen weit mehr irakische Flüchtlinge anerkannt als jeder andere EU-Staat. Andererseits wendet Deutschland bei diesen Menschen jetzt als einziges europäisches Land die Praxis des Widerrufs an. Bis Ende vergangenen Jahres sind deshalb etwa 20 000 Fälle überprüft worden, mit der Folge, dass bei rund 18 000 Irakern der Asylgrund als nicht mehr gegeben erkannt und ihnen ihr bisheriger Status abgesprochen wurde.

Das Innenministerium verweist darauf, dass selbst das Bundesverfassungsgericht die Widerrufspraxis gebilligt hat, dass die Bedrohung durch Saddam Hussein – in vielen Fällen der Asylgrund – nicht mehr gegeben ist, und dass Widerruf nicht gleich Abschiebung bedeutet. In der Tat hatte die Innenministerkonferenz im Herbst einen bis dahin gültigen Abschiebestopp in den Irak nur bedingt aufgehoben; seitdem wurden nur wenige Straftäter in den Norden des Landes zurückgeschickt. Organisationen wie das UNHCR oder Amnesty International halten es aber für falsch, angesichts der katastrophalen Lage im Irak überhaupt Widerrufsverfahren zu eröffnen.

Das Problem sei, sagt Stefan Telöken vom UNHCR, dass viele der Menschen dann nur noch „geduldet“ werden, und damit einen deutlich schlechteren Rechtsstatus haben. Wer geduldet wird, darf nicht mehr arbeiten, für die Kinder gilt keine Schulpflicht, und die Menschen können plötzlich ganz kurzfristig ausgewiesen werden. Auch wenn das im Falle des Iraks so bald nicht passieren wird, abgesehen von der deutlich schlechteren sozialen Situation schwebe „immer das Damoklesschwert der Abschiebung“ über einem, sagt Telöken. Der Grünen-Innenpolitiker Josef Winkler hält das für eine „internationale Blamage“. Zwar sei „formaljuristisch nichts gegen die Widerrufspraxis vorzubringen“. Da aber sowieso nicht abgeschoben werden könne, sei diese im Falle der Iraker eine „reine behördenrechtliche Maßnahme, die man auch einfach unterlassen kann“.

Weil die Situation im Irak so fürchterlich ist, wie sie ist, sieht auch die große Koalition die Notwendigkeit, sich mit dem Thema zu beschäftigen. Es könne nicht sein, dass irakische Flüchtlinge, die oft seit Jahren in Deutschland leben, nach einem Widerruf in der Regel in die Duldung fallen, sagt SPD-Innenexperte Dieter Wiefelspütz, „das muss ein Ende haben“. In der Koalition sei verabredet, darüber zu beraten, wie in Zukunft eine „integrierte Entscheidung“ getroffen werden kann.

Nachdem in dieser Woche die große UN-Konferenz in Genf mehr Hilfe für irakische Flüchtlinge zugesagt hat, werden die EU-Minister am Freitag vor allem über zwei Fragen debattieren: Über die Verstärkung der humanitären Hilfe im Irak und dessen Nachbarn Syrien und Jordanien, die mit etwa zwei Millionen Menschen die allermeisten Flüchtlinge aufgenommen haben, sowie über die Entscheidungspraxis der Mitgliedstaaten zu Asylanträgen von Irakern. Im Schnitt wurden in der EU 2006 etwa zehn Prozent dieser Anträge anerkannt, in Deutschland wären dies an die 200 Menschen. Dagegen haben die Niederlande laut Amnesty International von 2766 Anträgen nur ein Prozent anerkannt, die Schweden wiederum von 8951 etwa 80 Prozent. EU- Justizkommissar Franco Frattini am Mittwoch versprach deshalb vor allem Stockholm Finanzhilfe für die Flüchtlinge.

Humanitäre Aufnahmekontingente der EU für Iraker, die das UNHCR „sehr begrüßen“ würde, werden dagegen in Luxemburg vielleicht besprochen, aber wohl nicht beschlossen. Anders als in Staaten wie den USA, Kanada oder Australien steht in den meisten EU-Ländern die Praxis des individuellen Asylverfahrens im Vordergrund.

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