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In Kairo hat sich die Stimmung gewandelt. Mit dem Chaos ist die Hoffnung auf eine friedliche Umwälzung bei vielen Ägyptern gesunken.

© Reuters

Kein Ende der Gewalt in Ägypten: Im Herzen von Kairo

Kein Ende der Gewaltexzesse in Ägypten. Mubarak-Anhänger machen gezielt Jagd auf Oppositionelle und ausländische Journalisten. Regierungsvertreter widersprechen sich in ihren Aussagen.

Die Zelte sind in Fetzen, Verwundete liegen stöhnend auf dem zertrampelten Rasen. Ein junger Doktor in weißem Kittel und mit Chirurgenhandschuhen desinfiziert vorsichtig ein blutendes Bein. Eine verschleierte Frau kühlt mit einem kleinen Wasserbeutel die blau geschwollene Wange eines Verletzten. „Weine nicht, weine nicht, du bist ein Held“, tröstet Khaled Ghozlan seinen elfjährigen Sohn, dessen Platzwunde am Kopf mit vier Stichen genäht werden musste. Wasserflaschen, Verbandsfetzen liegen auf einer Mauer. Zwischen Steinen, Scherben und Holzlatten haben junge Ärzte eine Art Notfall-Lazarett auf dem Tahrir-Platz aufgebaut. Jeder packt an, wo er kann und schafft herbei, was er hat, um den Verletzten zu helfen.

Einen Tag nach den Zusammenstößen von Regierungsgegnern und -anhängern im Zentrum von Kairo und während sich die Protestierer auf dem Tahrir-Platz noch immer wie eingekesselt vorkommen, bietet sich ein Bild der Verwüstung. Gehwegplatten wurden herausgerissen, Glasscherben knirschen unter den Sohlen, verstreut liegen verkohlter Müll und Metallplatten aus Bauzäunen herum.

Aber wichtiger für die Menschen ist, sie haben ausgeharrt. Drei junge Frauen telefonieren aufgeregt mit ihren Familien. „Zum Glück haben wir den Platz noch unter Kontrolle“, sagt eine von ihnen. Nie zuvor haben sich in Ägypten so viele Frauen an einer Demonstration beteiligt – junge und alte, verschleierte und unverschleierte.

Nach 24 Stunden Chaos, Blutvergießen und Anarchie halten immer noch tausende auf dem Tahrir-Platz die Stellung, dem Epizentrum des Volksaufstands gegen Hosni Mubarak. Den ganzen Tag ersuchen sie über Twitter die Bevölkerung um Verstärkung und Unterstützung. Und die Menschen kommen tatsächlich – bis zum Nachmittag hatten sich nach Berichten der Facebook-Aktivisten wieder 70 000 eingefunden. „Wir werden Mubarak stürzen – wie auch immer“, skandieren sie. Viele jedoch wirken noch stark benommen von dem Albtraum der letzten Nacht, als sich die rasenden Unterstützer des Regimes auf sie stürzten.

Aber auch politisch ist die „Koalition für Änderung“ nicht bereit zurückzuweichen, zumal sich im ägyptischen Regime am Donnerstag erstmals tiefe Risse zeigen. Ein Ultimatum des neuen Vizepräsidenten Omar Suleiman, man werde den Dialog mit der Opposition erst dann aufnehmen, wenn die Proteste aufhören, beantwortete die Führung der Aktivisten kategorisch mit Nein. „Unsere Entscheidung ist klar. Es gibt keine Verhandlungen mit der Regierung, solange Mubarak nicht gegangen ist“, erklärte ein Sprecher. Danach aber sei man bereit für einen Dialog mit Suleiman, ließ das Gremium ausrichten, dem auch der Friedensnobelpreisträger Mohammed el Baradei und die sehr gut organisierte Muslimbruderschaft angehören.

Neue Großdemonstration am Freitag

Ein Zurück gibt es nicht mehr. „Wenn wir jetzt weichen, werden sie uns alle festnehmen und wegen Hochverrats aufhängen“, sagt einer über Twitter. Und so ruft das Komitee für Freitag nach dem Freitagsgebet erneut zur Großdemonstration auf, dem „Tag des Abschieds“, wie die Demonstranten ihn jetzt nennen.

Gegen Mittag meldete sich der neue Premierminister Ahmed Shafiq, seit fünf Tagen im Amt, mit erstaunlichen Sätzen zu Wort. Den Angriff auf die friedlichen Demonstranten nannte er einen katastrophalen Fehler. „Ich bitte um Verzeihung für alles, was gestern passiert ist. Das war eine Million Prozent falsch“, fügte er hinzu und versprach, die Verantwortlichen zu ermitteln und vor Gericht zu stellen. Anschließend erklärte sich der frühere Luftwaffen-General bereit, persönlich auf dem Tahrir-Platz zu erscheinen und mit den Demonstranten zu reden. Sein neuer Innenminister dagegen bestritt weiter dreist und ungerührt, Polizisten in Zivil seien in irgendeiner Weise an dem Blutbad beteiligt, obwohl Demonstranten am Vorabend den Schlägern dutzendfach Polizeiausweise abgenommen hatten und sie in TV-Kameras hielten.

Wie mittelalterliche Reiterhorden waren die Pro-Mubarak-Vandalen mit Kamelen und Pferden auf dem Tahrir-Platz eingefallen. Die Tiere stammen aus dem Armenviertel rund um die Pyramiden. Normalerweise befördern sie Touristen. Doch diesmal hatten Mubaraks Parteileute die Fremdenführer für 50 oder 100 ägyptische Pfund für den Kampfritt in die Innenstadt angeheuert, berichteten Augenzeugen. Umgerechnet sind das sieben bis 14 Euro, für die manche bereit sind, ihr ganzes Land in Trümmer zu legen. Andere behaupteten, ihre Vorgesetzten hätten sie zur Teilnahme gezwungen.

Nicht nur der monströs aufgeblähte Sicherheitsapparat, auch die vom Regime begünstigten Wirtschaftsmagnaten haben bei einem Machtwechsel viel zu verlieren. Und so setzten sich Schlägerkolonnen am Donnerstag erneut in Marsch. Schon am frühen Morgen rollte eine zweite Welle der Mubarak-Krieger über die Nilbrücken in Richtung Tahrir.

Doch diesmal gab es kein Durchkommen mehr. Panzer stellten sich ihnen auf den Nilbrücken entgegen und drängten sie zurück. Soldaten mit gezückten Gewehren bildeten eine Pufferzone, um die friedliche Menge zu schützen. Andere Truppen vertrieben Pro-Mubarak-Schläger von einer Hochstraße, von der herab sie Demonstranten mit Steinen beworfen hatten. Versorgungsfahrzeuge des Militärs karrten Wasser und Proviant heran.

Gezielt geschürter Ausländerhass

In der aufgeheizten Atmosphäre wird die Lage immer unübersichtlicher. So soll gezielt geschürter Ausländerhass inzwischen zur treibenden Kraft des Mobs werden. Ein Ausländer kam auf den Tahrir- Platz ums Leben, als Schläger auf ihn einprügelten. Es soll auch gezielt nach Amerikanern gesucht werden, wie Demonstranten über Twitter berichten. Unter den Marodeuren Mubaraks verbreitete sich wie ein Lauffeuer das Gerücht, man habe israelische Münzen auf der Straße gefunden, Ausländer hätten Flugblätter gegen Mubarak verteilt, und die Amerikaner hätten die Anarchie im Land angezettelt, um Ägypten zu zerstören. In einem Kulturraum, der voll gesogen ist mit Verschwörungstheorien, finden solche Thesen, wie absurd sie auch sein mögen, sofort Resonanz.

Auch will das Regime offenbar keine Zeugen. Zahlreiche Journalisten wurden verletzt, ihre Laptops und Kameras gestohlen. Einer erlitt eine Gehirnerschütterung, als er sich vor den galoppierenden Kamelen in Sicherheit bringen wollte. „Wir hassen Amerikaner, fahrt zur Hölle“, riefen junge Schläger und attackierten eine US-Fernsehcrew, die auf dem Tahrir-Platz Interviews machen wollte. Am Donnerstagvormittag begannen Zivilpolizisten, ausländische Journalisten auf dem Tahrir-Platz systematisch festzunehmen. Zwei italienische Fernsehjournalisten wurden von Soldaten aus den Fängen der Schläger befreit. „Die hätten uns totgeschlagen“, sagten sie nach ihrer glücklichen Rettung. In Alexandria zwangen Regierungssöldner eine amerikanische Fernsehcrew sogar mit gezückter Pistole, ihre Kameras zurück ins Hotel zu bringen. „Zum ersten Mal haben wir hautnah erlebt, was Diktatur bedeutet“, sagte die schockierte Korrespondentin später über den Sender, während abertausende Ausländer in Panik zu den Flughäfen eilen, um sich aus Ägypten fliegen zu lassen.

In Kairo haben sich die meisten Journalisten inzwischen in den großen Hotels Ramses Hilton sowie Semiramis InterContinental verschanzt, von deren Fenstern aus man das Geschehen auf dem Tahrir- Platz beobachten kann.

Ein Demonstrant gab auf BBC seiner Furcht vor einem zu schnellen Systemwechsel Ausdruck. Der Übergang vom Mubarak-Regime zur Demokratie müsse behutsam erfolgen, Schritt für Schritt. Er warnte vor einer überstürzten Demokratisierung. Was sich auf dem Tahrir-Platz ereigne, sei nur das Vorspiel für einen Bürgerkrieg, der sich auf das ganze Land ausbreiten werde, warnte er.

In der Nacht hatten Mubarak-Kämpfer die umliegenden Dächer erklommen, warfen Molotow-Cocktails oder Steine auf die Straße, während die Demonstranten auf dem Platz ihre Verwundeten versorgten. Bis in den frühen Morgen knatterte rund um den Platz Feuer aus automatischen Waffen. Salven flammten auch am Donnerstag immer wieder auf. Nach Angaben des Gesundheitsministers liegt die Zahl der Toten inzwischen bei fünf, die der Verwundeten bei 836. Die Wahrheit allerdings ist mit Sicherheit wesentlich schlimmer.

Eine Moderatorin des Staatsfernsehens Nile News jedenfalls hat am Donnerstag ihre eigenen Konsequenzen gezogen. Sie kündigte, nachdem ihre Chefredakteur sie zum fünften Mal zwingen wollte, die Nachricht „Es ist alles ist ruhig auf den Straßen Kairos“ zu verlesen. „Ich wollte einfach nicht mehr weiter lügen“, sagte sie.

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