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Politik: Kein fester Stand

Von Hermann Rudolph

Sind wir in einem Tollhaus? Da wartet ein Land auf eine Regierung, die sich in einer hochangespannten Situation seinen Problemen stellt. Da wird an einer Koalition gebastelt, mühsam, noch immer am Abgrund des Scheiterns. Und was machen die Parteien? In der einen beginnt mutwillig eine innerparteiliche Zündelei, die stichflammenartig aufschießt, den Vorsitzenden hinwegreißt und ziemlich viel verbrannte Erde hinterlässt. Und in der anderen, die stillhält, um ihre neuralgischen Zonen nicht zu reizen, hat ein Vorsitzender nichts Eiligeres zu tun, als sich abzusetzen. Ein Scherbenhaufen. Ein Trauerspiel. Man kann niemandem übel nehmen, wenn er auf solche Politik nichts mehr gibt. Sie schlägt sich ja die Beine weg, auf denen sie stehen will.

Was ist da los? Wenn eine eben ins parteiliche ErwachsenenAlter eingetretene Hoffnung wie Andrea Nahles im Juso-Stil Politik macht und der Morbus lafontainii selbst einen sauerländischen Parteiarbeiter wie Franz Müntefering befällt, muss etwas im deutschen Politikbetrieb kaputt sein. Offenbar ist sein Selbstverständnis ins Psychopathologische abgerutscht und hat die Politik zu einem Feld der Eitelkeiten und Egoismen gemacht. Irgendetwas ist da verloren gegangen, was für die Politik wichtig, ja unabdingbar ist. Ist es das Bewusstsein, dass Politik kein Selbstzweck ist, sondern eine Aufgabe, die zu erfüllen ist? Vielleicht fehlt ihren Akteuren auch nur ein bisschen Selbstdisziplin, ein Gran der berühmten Sekundärtugenden, die jemanden davon abhalten, etwas zu tun, was man nicht tut – jedenfalls nicht, wenn man für den Zustand des öffentlichen Wesens mitverantwortlich ist.

Natürlich gibt es Gründe dafür. Die gewaltige Beschleunigung der Politik gehört dazu, die Mediendemokratie mit ihrem Verbrauch an Personen und Profilen, die Politiker in der Rolle von Stimmungssurfern und Symboljonglierern auch– was alles heißt, dass diese Erosion der Substanz der Politik keineswegs nur an der SPD nagt. Aber das ändert nichts an der Bestürzung über die Neigung zur Selbstzerstörung, die in dieser alten Volkspartei wütet. Was ihre politische Statur angeht, so hat sie seit Brandts Zeiten keinen festen Stand mehr in sich selbst gefunden. Und die liegen rund zwanzig Jahre und sechs Vorsitzende zurück. Münteferings 19 Monate setzten diesem Prozess nur einen neuen Verfallszeitenrekord auf.

Gewiss, der SPD ist es immer nur zeitweise gelungen, ihre Grundspannung zwischen Debattieren und Regieren, Utopiesehnsucht und Politikpraxis im Gleichgewicht zu halten. Jetzt rächt sich, dass Schröder erst die Partei auf null brachte, um sie dann, als sie aufbegehrte, zu Müntefering abzuschieben, der gegen die Misere auch nur seinen alt-sozialdemokratischem Charme zu setzen wusste. Sprach Schröder im Mai, beim großen Aufbruch ins Ungewisse, nicht davon, mit dieser Partei könne er nicht mehr regieren? Nun hat die Wahrheit dieser Behauptung Müntefering eingeholt.

In diesem Jahr, so dachten wir, haben wir das uns zustehende Maß an politischen Zumutungen hinter uns. Dieser kleine Partei-Putsch am Nachmittag in seiner Mischung von vager Unzufriedenheit mit der SPD-Führung, ein bisschen Generationenk(r)ampf und Lust an der Intrige belehrt uns eines Schlechteren. Ist es vielleicht so, dass es dieser SPD einfach an dem Ernst fehlt, der der Lage des Landes entspricht? Wir wären froh, wenn wir sicher sein könnten, dass das nur ein SPD-Defizit wäre.

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