zum Hauptinhalt

Politik: Kein Rücktritt nach dem Fehltritt

Ungarns Regierungschef löst mit Lügen-Geständnis schwere Unruhen aus – doch er will im Amt bleiben

Budapest - Trotz der schwersten Unruhen der postkommunistischen Ära in Ungarn hat Ministerpräsident Ferenc Gyurcsany Rücktrittsforderungen eine Absage erteilt. Nach heftigen Straßenschlachten zwischen Polizisten und regierungsfeindlichen Demonstranten in Budapest drohte der Sozialist am Dienstag seinen Gegnern, bei neuen Unruhen hart durchzugreifen. Es gelte eine Krise in dem osteuropäischen EU-Land abzuwenden. Bereits in den Medien kursierende Rücktrittsmeldungen ließ Gyurcsany dementieren.

Die Ausschreitungen mit 150 Verletzten waren von einem Tonbandmitschnitt ausgelöst worden, in dem sich Gyurcsany selbst als Lügner bezichtigt hatte. Er habe die Ungarn über die prekäre Haushaltslage bewusst im Unklaren gelassen, um sich die Wiederwahl im April zu sichern. Obwohl er sich auf einem Parteitreffen hinter verschlossenen Türen geäußert hatte, wurde durch den an die Presse lancierten Mitschnitt die Öffentlichkeit informiert.

Als vorläufige Bilanz der nächtlichen Unruhen vermeldete die staatliche Nachrichtenagentur MTI am Dienstagmorgen 152 Verletzte – darunter 50 Demonstranten. Die aufgebrachte Menge hatte das Gebäude des staatlichen Rundfunks gestürmt. Der Sendebetrieb wurde vorübergehend unterbrochen. Am Morgen beruhigte sich die Lage und die Demonstranten verließen das Gebäude. Bis zum Mittag blieb es in der ungarischen Hauptstadt weitgehend ruhig. Rund 500 Menschen versammelten sich friedlich vor dem Parlament, um ihren Rücktrittsforderungen Nachdruck zu verleihen. Gyurcsany sagte, die Republik habe ihre „längste und dunkelste Nacht“ durchlebt. Bereits am Montag hatten sich rund 10 000 Menschen vor dem Parlament versammelt. Die Polizei setzte Tränengas und Wasserwerfer ein, um die Menge aufzulösen. Die Landeswährung Forint gab als Reaktion auf die Proteste am Dienstag nach.

Gyurcsany hat sich das Ziel gesteckt, mit Steuererhöhungen und drastischen Sparmaßnahmen das gewaltige Haushaltsdefizit Ungarns abzutragen. Im Wahlkampf hatte er jedoch noch Steuererleichterungen versprochen. Als der Inhalt des Tonbandes am Sonntag bekannt wurde, schlug die Nachricht in der Hauptstadt wie eine Bombe ein. Die Oppositionsparteien Fidesz und Demokratisches Forum Ungarns forderten den Rücktritt des Ministerpräsidenten. Zugleich wies Fidesz Vorwürfe zurück, sie habe die Proteste organisiert. Parteichef Viktor Orban hatte in dieser Woche mit der Bemerkung aufhorchen lassen, es würde ihn nicht wundern, wenn es zu zivilem Ungehorsam kommen würde. Anfang Oktober stehen Kommunalwahlen an, die die Opposition zu einem Referendum über die Legitimität der Regierung machen will.

Einige Demonstranten hatten während der Unruhen eine Gedenkstätte für russische Soldaten angegriffen, die 1945 in Budapest einmarschiert waren. Unter den Demonstranten waren nach Angaben von Augenzeugen auch einige Rechtsextremisten. Einige Protestierende skandierten während der Unruhen auch mehrfach „56“ – eine Reminiszenz an den mit Gewalt niedergeschlagenen ungarischen Volksaufstand im Oktober 1956 gegen die kommunistische Herrschaft.

Gyurcsany regiert in Ungarn gemeinsam mit der Allianz Freiheitlicher Demokraten. Sie stärkte ihm umgehend den Rücken. „Es wäre doch höchst unverantwortlich, wenn der Ministerpräsident jetzt zurücktreten würde.“ Er sei „rechtmäßig gewählt und sollte sein Programm weiter umsetzen“, sagte Liberalen-Chef Gabor Kuncze. In einer Umfrage hatten sich am Montag 43 Prozent der Befragten dafür ausgesprochen, dass der Regierungschef gehen solle. 47 Prozent wollen, dass er bleibt.

Gergely Szakacs (Reuters)

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false