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Es wird nicht besser. In Deutschland lebt jedes fünfte Kind in Armut.

© dpa

Kinderarmut: Sozialverbände fordern feste Geldleistung für alle Eltern

Hartz-IV-Empfänger erhalten kein Kindergeld, weil es mit ihren Leistungen verrechnet wird. Ein Skandal, finden mehr als 30 Organisationen - und fordern eine einheitliche Geldleistung für alle Eltern.

Mehr als 30 Sozialverbände, kirchliche Organisationen und Wissenschaftler haben die Politik am Dienstag aufgefordert, die Armut und Ausgrenzung von Heranwachsenden hierzulande endlich wirksam zu bekämpfen. Als Mittel dafür empfahlen sie „eine einheitliche und eigenständige Geldleistung für alle“ – statt des bisherigen Nebeneinanders an kindbezogenen Geldleistungen und Steuervergünstigungen, das vor allem besser Verdienende begünstige.

"Ein Skandal, der in unserer Gesellschaft verschwiegen wird"

Alle Unterzeichner eine „der Wille, auf einen Skandal aufmerksam machen zu wollen, der in unserer Gesellschaft verschwiegen, ignoriert und verdrängt wird“, sagte der Marburger Sozialethiker Franz Segbers. Es gebe „nicht nur kein einheitliches System zur Förderung von Kindern und zur Entlastung von Familien“. Vermögende würden sogar stärker gefördert als Normalverdiener. Und Kinder aus Hartz-IV-Haushalten würden besonders benachteiligt. „Unsere Kinderförderung steht auf dem Kopf“, so Segbers. „Wer am stärksten benachteiligt ist, verdient die größte Förderung – nicht umgekehrt.“

Über Steuerfreibeträge erhalten besser Verdienende derzeit pro Kind bis zu 277 Euro zurück. Das Kindergeld für Normalverdiener beträgt 190 Euro. Und Hartz-IV-Familien sehen davon gar nichts, da es mit den Regelleistungen verrechnet wird. Dieses System sei „zutiefst ungerecht“, heißt es in dem gemeinsamen Appell, den unter anderem Diakonie, Arbeiterwohlfahrt Rotes Kreuz, die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft und der Kinderschutzbund unterzeichnet haben.

„Wir wollen eine Gesellschaft, der jedes Kind gleich viel wert ist“, sagte der frühere Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Nikolaus Schneider. „Bei jedem Kind muss der gleiche Betrag ankommen.“

Unterzeichner fordern feste Geldleistung von 250 bis 300 Euro

Maria Loheide vom Vorstand der Diakonie Deutschland bezifferte die Summe, die pro Kind je nach Alter nötig sei. auf 250 bis 300 Euro im Monat. Das wären rund 50 Euro mehr als nach den gültigen Hartz-IV-Sätzen für Kinder. Hinzu kommen müssten Wohngeld, Schulhilfen und mehr familienbezogene Infrastruktur. Bisherige Regelungen etwa im Bildungs- und Teilhabepaket seien „viel zu kompliziert“, sie erreichten bedürftige Familien oft nicht.

Der Präsident des Kinderschutzbundes, Heinz Hilgers, betonte, dass sich die Kinderarmut hierzulande in 15 Jahren verdoppelt habe – obwohl die Zahl der Kinder von 15,7 auf 12 Millionen gesunken sei. Die Betroffenen seien Opfer einer verfehlten Politik. „Es reicht nicht mehr aus, an einzelnen Schrauben zu drehen“, sagte Hilgers. „Was wir brauchen ist eine Gesamtlösung und den Mut für einen Systemwechsel.“

Den Angaben der Sozialverbände zufolge leben in Deutschland derzeit rund drei Millionen Kinder in Familien mit weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens – also unter der EU-weit definierten Armutsschwelle.

In Berlin ist fast jedes dritte Kind auf Hartz-IV-Leistungen angewiesen

Zum Weltkindertag an diesem Mittwoch hatte die Arbeitsmarktexpertin der Linksfraktion im Bundestag, Sabine Zimmermann, ausgerechnet, dass 2015 jedes siebte Kind auf Hartz-IV-Leistungen angewiesen war - 2,2 Prozent mehr als noch im Vorjahr. Die Statistik basiert auf Daten der Bundesagentur für Arbeit (BA).

In einzelnen Regionen ist die Lage besonders schwierig: So ist in den Stadtstaaten Bremen und Berlin mit 31,5 Prozent fast jedes dritte Kind unter 15 Jahren auf Hartz-IV-Leistungen angewiesen (Ende 2015). In Sachsen-Anhalt sind es 21,8 Prozent, in Hamburg 20,4 Prozent. Prozentual am wenigsten Betroffene gibt es in Bayern mit 6,5 Prozent. Insgesamt sind in Ostdeutschland 20,3 Prozent der unter 15-Jährigen Hartz-IV-abhängig, in Westdeutschland 13,0 Prozent.

SPD-Vize: Prekäre Beschäftigung in Deutschland muss verschwinden

„Die Daten zeigen, dass wir mehr tun müssen, um die Schere zwischen Arm und Reich zu schließen“, sagte SPD-Vize Ralf Stegner dem Tagesspiegel. Armut von Kindern sei Folge der Armut ihrer Eltern. Deshalb müsse die SPD dafür sorgen, dass prekäre Beschäftigung in Deutschland verschwinde und Alleinerziehenden besser geholfen werde. „Wir haben Fortschritte durchgesetzt, mehr ist mit der Union kaum zu machen“, sagte Stegner. Für dieses „Kernthema der Sozialdemokratie“ werde man allerdings „im Wahlkampf streiten“, versprach er.

Arbeitsministerin Andrea Nahles (SPD) wertete Forderungen nach höheren Sozialleistungen als Mittel im Kampf gegen Kinderarmut allerdings skeptisch. „Die Verbesserung von Transferleistungen führt nicht dazu, dass strukturell das Problem wirklich gelöst wird“, sagte die SPD-Politikerin. Kinderarmut sei „vor allem Familienarmut“. Deshalb gehe es vorrangig darum, „einen oder am besten beide Elternteile in Arbeit zu bekommen“. Auch Verbesserungen bei der Kinderbetreuung seien ein gutes Mittel im Kampf gegen Kinder- und Familienarmut.

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