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Kirgistan: Die Mörder von nebenan

Nachts um halb zwei sind sie gekommen. Männer mit Masken und Eisenstangen. Immer noch tobt der Hass zwischen den verfeindeten Volksgruppen in Kirgistan. Die Liste der Gräueltaten wird täglich länger. Wer kann, ist auf der Flucht.

Entsetzen steht in den Augen der Frauen, als Gulnara, stumm und mit leerem Blick, den Saum ihres Kleides hebt und den bis an die Brust entblößten Körper den Blicken preisgibt. 20 dunkle Augenpaare schauen auf den faustgroßen blauen Fleck auf ihrem Bauch. Ähnliche Male tragen ihre Oberschenkel, die rechte Hand steckt in einem Verband. „Sie haben mich mit Eisenstangen geschlagen. Immer wieder.“

Gulnara ist 42 Jahre und kommt aus der Stadt Osch in Kirgistan, in der usbekische und kirgisische Volksgruppen zusammenleben. Seit Jahrzehnten führt dieses Miteinander immer wieder zu Konflikten. Mitte Juni dieses Jahres explodierten die Feindseligkeiten und führten zu tagelangen blutigen Unruhen mit zahlreichen Todesopfern. Wie zehntausende andere war Gulnara, die zur usbekischen Gruppe gehört, über die Grenze in den Nachbarstaat Usbekistan geflohen, als die Gewalt ausbrach.

„Drüben“, sagt Gulnara, „sind wir gut aufgenommen und betreut worden.“ In eigens für die Flüchtlinge geräumten Schulen und Ferienlagern. „Wir hatten saubere Betten, Wasser und dreimal täglich reichlich zu essen. Auch Ärzte waren da und Schwestern.“ Zwei Wochen durften sie bleiben. Aber dann fuhren plötzlich Busse vor. „Steigt ein, hieß es, ihr könnt jetzt zurück nach Osch. Angst müssten wir nicht haben. Es würde nicht mehr geschossen in Kirgistan, nicht mehr geplündert und gemordet.“ Bleiben, sagt Gulnara, durften nur Schwerkranke. „600, höchstens 700.“

Zunächst hat sie in der Tat den Eindruck, das Leben in ihrer Heimatstadt habe sich normalisiert. Erste Händler mit Samsa – Teigtaschen mit heißer, pikant gewürzter Füllung aus Hackfleisch und Zwiebeln – haben ihre Stände wieder aufgebaut, auf improvisierten Märkten werden Tomaten, Gurken und Kartoffeln verkauft. Auch ihr Haus findet Gulnara nur leicht beschädigt vor. Lediglich die Wasserversorgung ist zusammengebrochen.

Deshalb geht Gulnara in ein Café. Dort läuft der Fernseher, und die Nachrichten sind gute Nachrichten. In Osch, so die Sprecherin in der fernen Hauptstadt Bischkek, würden die Kinder wieder Blumen in den Händen halten und die Erwachsenen sich ohne Angst schlafen legen. Alles wieder in Ordnung, denkt Gulnara und geht nach Hause. Auch sie legt sich ohne Angst ins Bett.

„Nachts um halb zwei sind sie gekommen“, sagt Gulnara, „Männer mit Masken vor dem Gesicht und mit Eisenstangen in den Händen.“ Ihr Haus geht in Flammen auf. Nebenan schreit Dilbar, ihre 24-jährige Nachbarin. Sechs Mann sind in ihr Haus eingebrochen und vergewaltigen sie.

Am nächsten Morgen, kaum dass es um fünf Uhr hell wird und die Sperrstunde, die immer noch besteht, vorbei ist, machen sich beide Frauen erneut auf die Flucht. Sie suchen den Weg nach Babalaschka, wo Sanobar wohnt. Gulnara kennt sie seit ihren Kindertagen und nennt sie Tante.

Das Dorf liegt gleich hinter der Stadtgrenze von Osch, dennoch sind die Frauen Stunden unterwegs. Weil sie Schleichwege nehmen müssen, um die Straßenposten zu umgehen. Milizen der Kirgisen. „Erst gegen Mittag“, sagt Gulnara, „waren wir bei Tante Sanobar.“ Sie und die anderen Frauen der Familie sind die Ersten, denen Gulnara ihre Verletzungen zeigt.

Es kostet sie Mühe zu sprechen. Die erste Flucht, die zweite Flucht, der Überfall. Tante Sanobar, sagt sie, habe als Erstes allen verboten, Dilbars Mann, der in Russland arbeitet, von den Vergewaltigungen zu erzählen: „Sonst lässt er sich scheiden. Das ist bei uns hier ...“ Mitten im Satz sackt sie in sich zusammen. Eine der Frauen kann sie gerade noch auffangen und führt sie in den Garten.

Sanobar Hanim – Frau Sanobar –, wie alle sie nennen, hat jene Rolle, von der Usbekinnen träumen. Als Mutter vieler Söhne untersteht ihr ein ganzes Regiment von Schwiegertöchtern und Enkeln, für die das Wort der 64-Jährigen Gesetz ist. Ihre eigene Familie besteht aus 15 Mitgliedern, derzeit muss sie weitere 20 durchfüttern: Flüchtlinge wie Gulnara und Dilbar. Acht Tage waren sie von der Umwelt abgeschnitten, konnten, weil die Handyguthaben aufgebraucht waren, nicht einmal Verwandte oder Bekannte um Mehl oder Medikamente bitten. In ihrer Not haben die Bewohner mit weißer Farbe alle paar hundert Meter SOS auf den Asphalt der Straße gemalt, um Hilfsorganisationen auf sich aufmerksam zu machen. Sogar mit lateinischen Buchstaben. „Na ja“, sagt eine von Sanobars Schwiegertöchtern, „die beiden ,S‘ haben wir seitenverkehrt gemalt. Aber verstehen müssten die das trotzdem, oder?“

Ihr Leib wölbt sich unter dem Seidenkleid. In wenigen Tagen wird ihr Kind auf die Welt kommen. Sanobar hat sie daher von der Ernte der ersten Sauerkirschen befreit. Sanobars Enkel und die jüngeren Schwiegertöchter pflücken sie an der Straße mit dem SOS-Schriftzug, die Älteren bieten die Kirschen per Handy Nachbarn zum Tausch an. Gegen Mehl oder Reis. „Wenn es nicht klappt“, sagt Sanobar, „werden wir und die Flüchtlinge so lange zusammen essen, wie der Vorrat reicht. Und dann eben zusammen hungern. Außerdem haben wir ja noch Onkel Schenja.“

Gemeint ist Jewgeni Wolkow, ein Russe, zu Sowjetzeiten Ingenieur in einem Wasserkraftwerk oben in den Bergen. Heute ist er Taxifahrer. Jewgenis und Sanobars Familien sind seit Jahren befreundet. Er war der Erste, der sich nach den Unruhen durch die Straßenposten in ihr Dorf traute, und macht Sanobar jetzt ein Angebot, dem sie nicht widerstehen kann: Er wird sie sicher nach Osch und wieder zurückbringen. Damit sie Azad sieht, ihren Enkel, den ihre jüngste Schwiegertochter Nargisa vor acht Tagen zur Welt brachte. „Sie darf nicht“, sagt Gulnara. „Redet ihr das aus. Sie erträgt es nicht.“

Sie erträgt es in der Tat nicht. Sanobar schluchzt wie ein kleines Kind, als Jewgeni Wolkows Taxi die ersten rauchgeschwärzten Trümmer passiert. „Das usbekische Krankenhaus. Verbrannt. Da wurden doch auch Kirgisen behandelt! Sogar eine Moschee haben sie angesteckt. Osch, mein Osch, wer hat dir das angetan. Und warum?“ Sanobar ringt noch um Fassung, als das Taxi bereits über den Basar fährt. Einst war er der größte im ganzen Ferganatal, heute ist er ein Trümmerfeld. Die Mauern der Häuser tragen Brandspuren, die Türen sind verriegelt. Eine öffnet sich blitzschnell und schließt sich mit gleicher Geschwindigkeit wieder. Es ist das Haus, in dem die Eltern von Nargisa, Sanobars Schwiegertochter, wohnen.

Drinnen scheint die Zeit am Tag vor den Unruhen stehen geblieben zu sein. Der kunstvoll geflieste Hof ist so sauber, dass man vom Boden essen könnte. Aprikosenbäume voller Früchte spenden Schatten, der Duft von Rosen vermischt sich mit dem von Basilikum, mitten in der Idylle sitzt Nargisa und stillt den kleinen Azad.

Auch Kinsanchan Sadykowa hatte einst ein Haus wie dieses. Jetzt sitzt sie auf dessen Trümmern und bearbeitet verbissen ihre Teeschalen. Immer wieder reibt sie mit dem Lappen über die schwarze Rußschicht. So lange, bis sich darunter die weiße Glasur zeigt. Die Teeschalen und das Kleid aus blau gemusterter Seide, das sie seit 15 Tagen auf dem Leib trägt, sind das Einzige, was ihr geblieben ist. „Wir haben unser ganzes Geld in dieses Haus gesteckt“, sagt sie. „Und jetzt stehen wir vor dem Nichts.“ Mit nassen Augen zeigt die Endvierzigerin auf Schuttberge und verkohlte Baumstümpfe. „Was soll werden mit uns? Bald ist Winter.“ Im Ferganatal so kalt, wie der Sommer heiß ist. Es ist noch nicht einmal elf Uhr, und das Thermometer zeigt bereits weit über 30 Grad im Schatten.

Mahalla nennen die Bewohner ihre Mini-Kieze, in denen jeder irgendwie mit jedem verschwägert ist. Die Mahalla von Kimsanschan Sadykowa zählte über 1500 Einwohner, die meisten lebten in Großfamilien: drei Generationen unter einem Dach. Jetzt sind von den 162 Häusern 58 total zerstört, ihre Bewohner nächtigen in den Ruinen oder in Autowracks. Allein in seiner Straße, sagt Durdubay Borobajew, 64 und gewählter Ältester, habe es über 20 Tote gegeben. Für keinen davon hätten die Beamten einen Totenschein ausgestellt. Ohne Totenschein aber würden sie aus der offiziellen Statistik fallen. Die jongliert derzeit mit gut 200 Opfern. Borobajew geht von über 2000 in Osch aus.

Es seien „ethnische Säuberungen“ gewesen, sagt er. Plünderer und Marodeure hätten Einwohnerlisten gehabt, sich in Mehrfamilienhäusern gezielt die Wohnungen von Usbeken vorgeknöpft. Nicht nur Kirgisen aus Osch, auch Männer aus den nördlichen Regionen seien dabei gewesen. „Sie haben alles mitgenommen, was nicht niet- und nagelfest war“, sagt Borobajew. „Allein aus meinem Lebensmittelgeschäft 260 Säcke Mehl und ein paar Fässer mit Pflanzenöl. Dann haben sie unsere Häuser angesteckt. Und aus dem, was nach dem Brand übrig war, haben sie mit Äxten Kleinholz gemacht.“ Auch Borobajews Hof liegt zur Hälfte in Trümmern, sein Granatapfelbaum sieht aus, als hätte ein Blitz ihn gespalten.

„Nicht schießen. Bitte, bitte!“ Schreiend rennt sein fünfjähriger Enkel davon, als er das Kameraobjektiv der Reporterin auf sich gerichtet sieht. „Komm her, mein Löwchen“, sagt Borobajew, „die Tante schießt nicht, sie macht Bilder. Da, guck mal.“ Das „Löwchen“ bleibt misstrauisch. „Wegen der Scharfschützen“, sagt Borobajew. „Oben auf dem Salomonsberg standen sie und haben ihren Kumpanen unten den Weg frei geschossen.“

Am nächsten Tag quält sich der altersschwache Mercedes von Jewgeni Wolkow, dem Taxifahrer, die Serpentinen hinauf. Weil man von oben das Ausmaß der Zerstörungen am besten sieht. Blechern scheppert die Stimme eines lokalen Sängers aus dem Autoradio: „Mein Osch, du Kronjuwel des Ferganatals.“ Kronjuwel? Derzeit eher eine schwarze Perle.

Kirgisen wie Usbeken haben die Bäume abgeholzt, weil sie die Stämme für Barrikaden brauchten. Diese wie jene haben ihre Viertel zu Festungen ausgebaut. Geschützt von bewaffneten Milizen, die Autos der jeweils anderen Volksgruppe nach Waffen durchsuchen. Und neutralen Beobachtern hin und wieder ihre Beute präsentieren. Schießprügel, Nagelpeitschen oder mit Rasier- oder Messerklingen bewehrte Schlagstöcke. Schließlich müssen sie sich und dem Rest der Welt beweisen, dass die andere Seite die schlimmeren Gräueltaten begangen hat. Einig sind sich Kirgisen und Usbeken nur darin, dass das Gemetzel in der Nacht zum 11. Juli begann. Zu seinen Gründen und dem Verlauf haben sich beide Volksgruppen ihre eigenen Mythen zurechtgebogen.

„Wir haben eine militärische Intervention der Republik Usbekistan verhindert“, sagt zum Beispiel Danijar, ein Mann Anfang 40, der in einem Hotel als Wächter arbeitet. „Usbekistan wollte mit Panzern und Kampfhubschraubern angreifen und den Süden Kirgistans besetzen.“ Detaillierte Pläne für eine Invasion seien gefunden worden. Das habe er, Danijar, mit eigenen Augen gesehen. Im kirgisischen Staatsfernsehen.

„Quatsch“, sagt Borobajew, der Älteste der zerstörten Usbeken-Mahalla. „Wir wollen keine Abspaltung, sondern Autonomie. Immerhin stellen wir hier im Süden 70 Prozent und in ganz Kirgistan ein Drittel der Bevölkerung. Unser Anteil wird bei Volkszählungen aber immer heruntergerechnet, Usbekisch ist daher bis heute keine Staatssprache.“

„Autonomie?“ Gehässig dehnt Hotelsicherheitsmann Danijar die Silben. „Autonomie brauchen eher wir Kirgisen.“ Vor den Unruhen hätten die Usbeken den Gouverneur und den Bürgermeister gestellt und die Märkte kontrolliert.

Wohin man auch blickt, überall führt blanke Wut das Regiment. Auf die jeweils andere Volksgruppe, die von Stalin angeblich bevorteilt wurde, als er 1936 die bis heute gültigen Grenzen ihrer Republiken festlegte. Auf die Journalisten, die angeblich nicht objektiv berichten, auf das UN-Flüchtlingskommissariat oder das Internationale Rote Kreuz. Hilfsgüter, klagen Usbeken, würden von Kirgisen und damit vor allem an deren Volksgruppe verteilt. Noch ist es nicht gelungen, die Tätigkeit der internationalen Hilfsorganisationen auch nur ansatzweise zu koordinieren. Daher will sich jetzt Ärzte ohne Grenzen selbst darum kümmern. In Osch hat die Organisation inzwischen eine Poliklinik zum Notfallstützpunkt umgebaut. Mit Operationssaal und Sicherheitsraum, den Anja Wolz, die medizinische Koordinatorin, voller Stolz zeigt. Die 40-jährige Krankenschwester kommt aus Franken und wirkt am Aufbau eines Nachsorgeprogramms für psychologische Betreuung mit. Ihre Organisation, sagt Wolz, engagiere sich zwar nicht politisch, wolle aber helfen, das Vertrauen zwischen Kirgisen und Usbeken wiederherzustellen. Man kann ihr nur wünschen, dass sie ihren Optimismus nicht verliert.

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