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2013

© dpa

Politik: Klasse machen

Schule ist zu einem Problem geworden. Bildungsmisere, Sprachprobleme, Multikultidebakel und Pisa-Schock lauten die Stichworte, die von außen kommen. Zwei altgediente Berliner Lehrerinnen liefern ganz andere.

Karen Herring erinnert sich genau. Sie habe drei Monate lang nicht richtig geschlafen, als es losging. Ihre erste eigene Klasse. Sie war so aufgeregt und so erschrocken über die Wucht dieser Verantwortung.

Bei Bettina Liedtke war es ähnlich. „Ich bin in meinen Träumen unentwegt gerannt“, erinnert sie sich. Gerannt und gerannt, als müsste sie entfliehen.

Es war Anfang der 1970er Jahre und im Nordwesten von Berlin, genauer: im Märkischen Viertel, einer Hochhaussiedlung, die damals gerade entstand. Knapp 17 000 Wohnungen und vier Schulen, und an einer der Grundschulen fingen die beiden jungen Lehrerinnen an. Frisch verbeamtet, eigene Klasse – und hoffnungsfroh.

So wie die Stadt selbst ein paar Jahre zuvor den Bau der Siedlung am Rande des Bezirks Reinickendorf begonnen hatte. Doch wandte sich im Städtebau die herrschende Meinung plötzlich gegen die Retortenstädte. Das Märkische Viertel wurde bereits während der Fertigstellung als Fehler gebrandmarkt – und dennoch zu Ende gebaut. Damit steht es sinnbildlich für eine Erfahrung, die sich in den Jahrzehnten im Schuldienst, die für die beiden jungen Lehrerinnen kommen sollten, mehrfach wiederholte: dass die Theorie besser war als die Praxis, aber die Praxis trotzdem nachrangig blieb, als käme es nicht allein auf die an.

Bettina Liedtke mixt in ihrer Küche Minzbrause mit Eiswürfeln, Karen Herring sitzt schon im hellen Wohnzimmer, die sommerliche Hitze draußen wird durch hohe Bäume vor dem Haus abgeschirmt. Noch drei Tage bis zum Einschulungstag 2013.

Es sei doch immer aufs Neue wieder aufregend, sagt Bettina Liedtke und lacht, denn Einschulungen sind für sie wahrhaftig keine neue Erfahrung. Im Gegenteil. Seit fast 40 Jahren ist sie nun Grundschullehrerin, das Berufsende ist deutlich näher als der Einstieg.

Für Karen Herring ist bereits Schluss, seit 2010 ist sie in Pension. Seither habe sie, sagt sie, „die Institution Schule nicht einen Tag vermisst“. Bettina Liedtke nickt. Die beiden Frauen treffen eine ganz klare Unterscheidung, wenn sie von ihrer Arbeit reden. Da ist einerseits Schule als Behörde mit ihrer ausufernden Umständlichkeit. Und andererseits der Umgang mit Kindern, der Unterricht, das Eigentliche, das nach wie vor Spaß mache (Liedtke) oder bis zum Schluss Spaß gemacht habe (Herring).

Prost!, die Eiswürfel klingen in den Gläsern, und die beiden Frauen sehen sich einvernehmlich an. Zwei von rund 30 000 Lehrerinnen und Lehrern, die in Berlin an 700 öffentlichen Schulen unterrichten, zwei von all jenen, die während eines langen Berufslebens mitansehen mussten, wie ihr ganzes Gewerbe von einer mehr oder weniger akzeptierten Selbstverständlichkeit zu einem unentwegt diskutierten Problem wurde. Neun Schulsenatoren aus SPD, CDU, Grünen und FDP haben sie in der Zeit gehen oder kommen sehen, manche von denen blieben unauffällig, andere wollten sich mit ihrer Politik ein Denkmal setzen. Sie haben Ruckreden und flammende Bildungsplädoyers von verschiedenen Bundespräsidenten gehört. Und das allgemeine Geschrei, wenn europäische Bildungsvergleichsstudien die deutschen Schulen nur mittelmäßig aussehen ließen. Bildungsmisere, Pisa-Schock, Sprachprobleme, Multikultidebakel. So lauten die Stichworte der Krise, die von außen auf die Schule einprasselten.

Die Stichworte, die von innen geäußert werden, sind ganz andere. Sie sind viel kleiner. Liedtke und Herring nennen ein paar von denen, die ihre Schuljahre prägten: die vielen Reformen, die nicht durchdacht waren. Das ständige Sparen, das die sinnvollen Ansätze der Reformen im Keim erstickte. Die Belehrungen durch die Öffentlichkeit. Die Verschlechterung der Fortbildungsmöglichkeiten. Die Regularien für jeden Handgriff.

Es geht um die Verbürokratisierung eines Berufs, der doch ein kreativer und flexibler ist und sein muss, einer, der Individuelles finden, fördern und in den Vordergrund stellen soll. Der ein Kind, so besonders es schon ist, wenn es mit Schultüte und großen Augen zum ersten Mal den Schulhof betritt, erkennen, ansprechen und zum Lernenwollen motivieren soll.

„Nicht Wissensmehrung, sondern Kräftebildung“ als Kernanliegen des Unterrichts an der Elementarschule, so hat es sich Wilhelm von Humboldt vorgestellt, als er Anfang des 19. Jahrhunderts eine Bildungsreform ersann, mit der ein Abbau der Klassenhierarchie gelingen und der mündige, engagierte Bürger zum Fundament des neues Staates werden sollte. „Die Ermächtigung zur Selbstbestimmung sollte nur durch die Kraft der Bildung erfolgen“, fasst Bruno Hamann in seiner „Geschichte des Schulwesens“ zusammen. Das ging damals manch einem viel zu weit. Grundbildung für alle – wo käme man da hin? Sind nicht vielmehr die Menschen und somit auch die Kinder viel zu unterschiedlich für solche Gleichmachereiexperimente?

Liedtke und Herring haben von Mitte der 70er Jahre bis 2003 zusammen an der Chamisso-Schule im Märkischen Viertel gearbeitet, dann wechselte Bettina Liedtke in den gutbürgerlichen Stadtteil Lichterfelde-West, wo sie seither an der deutsch-griechischen Athene-Grundschule unterrichtet. Der Kontakt blieb. Gute Kontakte zu Kollegen seien ganz wesentlich fürs Durchhalten, sagen beide.

Seit 2003 hatten Liedtke und Herring es dann mit sehr unterschiedlichen Schülern zu tun. Im Märkischen Viertel kommen sie oft aus belasteten Familien, die von Transferleistungen leben, ziellos und bildungsfern, viele sind aus zerrütteten Länder zugereist und in Deutschland immer fremd geblieben. Die Kinder sind zu sehr sich selbst überlassen und haben, so ein allgemeiner Lehrereindruck, von den schlichtesten Dingen noch nichts gehört. In Lichterfelde-West dagegen wissen die Kinder bereits viel, wenn sie zur Schule kommen. Da gibt es Großeltern, die mit den Enkeln in Museen gehen, da werden Ausflüge gemacht, große Reisen unternommen, da wird das Einkommen selbst verdient, da haben Menschen Ziele und Bildung gilt etwas, und manchmal auch viel zu viel. Dann haben die Eltern Angst um die Zukunft ihrer Kinder, die sie gerade erst einschulen, um deren Chancen später mal in dieser unsicheren, sehr kompetitiven Welt. Die Eltern seien sehr gestresst und sehr behütend, hätten mehr Ängste als früher. Was auch nicht nur zum Nutzen der Kinder ist. „Die Kinder sind zu immer weniger selbst in der Lage“, stellt Bettina Liedtke fest. Weil die Eltern ihnen von der Schulmappenpflege bis zur Streitschlichtung alles abnehmen.

Doch von beiden Seiten aus – den vernachlässigenden wie den überbesorgten Eltern aus – spüren sie denselben Vorbehalt. Sie spüren: Misstrauen. Die einen misstrauen der Schule aus Unkenntnis, die anderen aus oft nur vermeintlicher Kenntnis. Weil sie selbst mal Schüler waren, weil sie an der Universität Lehramtsstudenten kennengelernt haben, weil sie wissen oder zu wissen meinen, worauf es ankommt im Leben. Was mal nützlich sein wird. „Bildung ist kein Synonym für Wirtschaftsnutzen“, schreibt Klaus Mertes, ehemaliger Leiter des Berliner Canisius-Kollegs, in seinem Buch „Schule ist für Schüler da“. Doch die Umdeutung hat längst begonnen, und die Bildungsmisere drückt sich vor allem im sinkenden Marktwert der Schulabgänger aus.

In ihrer Untersuchung zur „Rolle der Schule in der Gesellschaft“ von 1997 beschreibt die Pädagogin Elke Inckemann mehrere Bürokratisierungsschübe, die seit dem 17. Jahrhundert über das Bildungswesen hereingebrochen seien, während es von einer meist kirchlichen, militärischen oder privaten Angelegenheit zu einer Staatsaufgabe heranwuchs. Wurden zunächst Formalien wie Schuleintritt, -dauer und Unterrichtsinhalte geregelt, ging es später um Kriterien für Leistungsbeurteilungen und Schulabschlüsse, um Schüler- und Elternrechte und den Beamtenstatus für Lehrer, es ging um Stundentafeln, Lehrmittelzulassung und sogar die Gestaltung von Schulgebäuden. Inckemann konstatiert für das 20. Jahrhundert eine „zunehmende Regelungsdichte“: „Der Staat übernahm die Kontrollfunktion über das Schulwesen“, es seien „Hierarchisierung, Formalisierung und Routinisierung von Verhaltensweisen eingeführt“ worden, die Schule wurde eine verwaltete Organisation. Als die Regeln und Vorschriften ab den 1960er Jahren dann auch der Gleichheit und Gerechtigkeit dienen sollten, wurde aus all den Vorschriften „ein Gestrüpp“, das keinen Freiraum mehr bot. Oder wie Bettina Liedtke es spöttisch zusammenfasst: „Alles muss drei Mal abgesichert werden.“

Ein Beispiel dafür: Sie hätten früher in der Chamisso-Schule im Märkischen Viertel einen Vermittlungsausschuss gehabt. Der konnte von Lehrern, Eltern oder dem Schulleiter schnell und unbürokratisch einberufen werden, wenn es Probleme gab. In manchen Klassen habe der Ausschuss wöchentlich getagt, aber es half. Man hörte einander zu, Eltern kamen untereinander ins Gespräch, der Wille, Unterricht möglich zu machen, sei bei allen erkennbar gewesen. Heute müsste im Fall größerer Probleme eine Klassenkonferenz einberufen werden. Dafür seien Schriftsätze und Gutachten nötig. Eine Klassenkonferenz ist ein offizieller Vorgang, was zusätzlich hemmt, und so verlaufe alles sehr zäh. Dabei sei bei Fehlverhalten wichtig, dass die Reaktion schnell erfolge, sagt Liedtke und wundert sich ein bisschen, dass so etwas noch der Erwähnung bedürfe.

Je länger die ehemaligen Kolleginnen über die mitgemachten Änderungen im Schulalltag sprechen, desto näher rücken sie der Feststellung, dass denen allzu oft der „gesunde Menschenverstand“ fehle. Also das, das zu schaffen nach Humboldt das Hauptanliegen der Schule sein sollte. Die Abschaffung der Vorklassen, die ein Segen für die Grundschulen gewesen seien und deren Wiedereinführung inzwischen wieder diskutiert werde. Die Einschulung mit fünf Jahren, die für unreife Kinder zu negativen Schulerfahrungen führte und gegen die sich viele Eltern erbittert gewehrt haben. Dazu die vielen Unterrichtsmoden. Oder das jahrgangsübergreifende Lernen JüL oder Frühenglisch in Klassen, deren Schüler nicht mal eine gemeinsame Sprache haben. Projekte, die als Theorie vielleicht überzeugen, sich in der Praxis aber als Irrtum erwiesen. Oder wie eine Kreuzberger Lehrerin bei anderer Gelegenheit sagt: Projekte, die davon zeugen, dass der Glaube, die Schüler würden sich eines Tages schon noch dem Lehrplan anpassen, ungebrochen sei.

Neben diesen Neuerungen mit fraglichem Nutzen brachen auf der anderen Seite Gewohnheiten weg. Fast ausschließlich solche, die vor allem weniger schnellen Lernern halfen. Als sie anfingen, wurden die Stundenzahlen von Schuljahr zu Schuljahr langsam gesteigert, sagt Liedtke, blieben die Erstklässler heute oft schon bis zur sechsten Stunde in der Schule. 1991 fiel dann der Samstagsunterricht weg, dem sie zwar keinesfalls nachtrauern, der aber herrlich entspannte Zeit für das Zusammensein mit den Schülern gewesen sei. Samstags seien früher auch Eltern öfter mal vorbeigekommen, um zuzuschauen. Die Teilungsstunden, die erst immer weniger und dann ganz abgeschafft wurden. Die Besuche bei Eltern, die irgendwann nicht mehr gemacht wurden, weil dort während des Gesprächs über die Probleme des Kindes der Fernseher mit Ton einfach weiterlief, weil erkennbar überhaupt kein Interesse bestand. Die Schulpsychologen, von denen es, als von Multikultimisere noch kaum eine Rede war, mehr gegeben habe als heute, da das soziale Konfliktpotenzial in den Schulen vor sich hingärt.

Man kann es wohl so zusammenfassen: Je schwieriger das Unterrichten wurde, desto schlechter wurden die Lehrer dazu befähigt. Was bis in die Ausbildung reicht. Sie hätten noch Praxissemester gehabt, erzählen die beiden Frauen, von denen eine in Berlin, die andere in Hannover studierte. Sprich: eine über ein paar Tutorenstunden hinausreichende Vorstellung von dem, was sie erwarten würde im Berufsalltag. Eine nützliche Sache, die trotzdem gestrichen wurde und die jetzt wieder eingeführt werden soll. Derzeit helfen ältere Kollegen den Neuen beim Einstieg über die erste Zeit hinweg. Der Stundennachlass, den es früher für diese Mentorentätigkeit gegeben habe, sei allerdings gestrichen worden.

Sie lächeln, wenn sie erzählen. Sie regen sich nicht auf. Sie mögen ihren Beruf immer noch. Sie sind natürlich auch mit den Jahren souveräner geworden und unbeeindruckbarer. Nur eine Sache sei nicht einfacher geworden: die mit den Zensuren. Im Gegenteil. Je länger sie dabei sei, sagt Bettina Liedtke, desto unangemessener finde sie diese Tätigkeit: eine einzelne Ziffer finden, die so etwas Kompliziertes wie ein lernendes Kind beschreiben soll.

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