zum Hauptinhalt

Politik: Kleinster gemeinsamer Nenner

Der Kompromiss der Loya Dschirga schlägt eine Brücke zwischen konservativer Mehrheit und Modernisierern

Wer einverstanden ist, möge einfach aufstehen, verlangte Sibghatullah Mudschadedi, der auf der Loya Dschirga, dem afghanischen Verfassungskonvent, den Vorsitz führte. Der Aufforderung kamen die 502 Delegierten am Sonntagabend ohne Ausnahme nach. Danke, setzen. Damit waren die dreiwöchigen Beratungen beendet.

Insgesamt acht Monate lang hatte ein 35-köpfiger Verfassungsausschuss um Grundzüge der neuen afghanischen Verfassung gerungen und den Entwurf immer wieder umgeschrieben. UN-Beobachter und Menschenrechtsgruppen hatten zu Recht auf Verbesserungen eines Entwurfs gedrängt, dessen erste Fassung Kritiker zu Recht als Elaborat verrissen, das über weite Strecken auch aus der Feder der Taliban hätte stammen können. Dann zerpflückten die in allen 32 Provinzen des Landes gewählten Delegierten der verfassungsgebenden Versammlung, die Mitte Dezember in Kabul zusammentrat, den mühsam erreichten Kompromiss wieder in seine Einzelteile.

Mehrfach drohten die Ratsversammlung und der Entwurf zu scheitern. Gegensätzliche Gruppeninteressen bündelten in der Loya Dschirga die nach wie vor ungelösten ethnischen Konflikte, religiösen und weltanschaulichen Gegensätze der afghanischen Gesellschaft wie in einem Brennglas. Manche davon gehen noch auf die Zeit unter britischem Protektorat im 19. Jahrhundert zurück, andere bauten sich nach dem Sturz der Monarchie 1973 auf. Linke „Revolutionäre" wollten damals aus dem Vielvölkerstaat Afghanistan, wo der Staat sich stets auf eine Minimum beschränkte und der Islam die einigende Klammer für das Zusammenleben der Ethnien darstellte, einen modernen Einheitsstaat europäischer Prägung machen, der das fein austarierte Interessengleichgewicht der Völker und Stämme aus dem Lot brachte. Die Intervention der Sowjets fünf Jahre später war daher nicht der Auslöser des Bürgerkriegs, der Mitte der neunziger Jahres die Taliban als Ordnungsfaktor auf den Plan rief. Vielmehr beschleunigte die Moskauer Intervention nur jene verhängnisvollen Entwicklungen, die sich mit der neuen Verfassung nicht wiederholen sollen.

Inschallah – so Gott will. Schließlich sind die 160 Artikel, um die 20 Tage lange erbittert gestritten wurde, der kleinste gemeinsame Nenner, auf den sich die konservative Mehrheit und die kleine Gruppe von Modernisierern verständigen konnten.

Darüber hinaus gibt es keine Garantien, dass sich die Teilnehmer der Loya Dschirga in der Praxis an die am Sonntag in Kabul getroffenen Abmachungen halten. Die rivalisierenden Gruppen wissen allerdings genau, dass Gelder für den Wiederaufbau nur dann fließen, wenn der vor zwei Jahren auf dem Bonner Petersberg beschlossene UN-Fahrplan bedingungslos eingehalten wird.

Die Hemmschwelle, sich nicht an die Vereinbarung von Kabul zu halten, ist im Vorfeld der Wahlen in diesem Jahr geringer denn je. Schon auf der Loya Dschirga war der Widerstand gegen den Verfassungsentwurf häufig weniger sachlichen Einwänden geschuldet als vielmehr der Tatsache, dass oppositionelle Mudschaheddin-Führer ihre Heerscharen für den bevorstehenden Machtkampf mit Präsident Hamit Karsai sammeln. In Kabuler Basaren firmierte der Verfassungskonvent daher nicht mehr als Loya Dschirga - große Ratsversammlung -, sondern Loya Dschagra - großer Kampf.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false