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Koalitionstreffen in Meseberg: Geisterbeschwörung

Diese große Koalition ist ein taktisch befristeter Zweckbund – mehr noch als die erste. Man wird jetzt ein paar Jahre miteinander regieren, aber danach soll etwas anderes kommen. Das Teambuilding in Meseberg klappt trotzdem prima. Die Kanzlerin sagt: Es war schön.

Von Robert Birnbaum

War da was? Also von wegen „Fehlstart“ und so, vorpreschende Minister und ein Fraktionsvorsitzender, der zur Ordnung ruft? Sigmar Gabriel setzt seine unschuldigste Miene auf, dieses Kleine-Buben-von-der-letzten-Bank-Lächeln. „Wir haben solche Konflikte gar nicht“, sagt der Vizekanzler. Angela Merkel macht eine Kopfbewegung, die man im Zweifel als Zustimmung deuten kann. Die erste Klausur des neuen Bundeskabinetts liegt hinter den beiden. Im Schloss Meseberg hat es zwei lange Sitzungen am Kabinettstisch gegeben und einen Abend, der jedenfalls für Merkel nicht ganz so lang war, wegen des vermaledeiten angebrochenen Beckens. Trotzdem, „es war schön“, sagt Merkel.

Das Wintertreffen in der brandenburgischen Ferne gehört inzwischen zu den festen Ritualen jeder neuen Bundesregierung. Draußen vor dem Schloss frieren die Fernsehreporter, loben den sanft verschneiten Ausblick, stellen mit roten Ohren Mutmaßungen darüber an, was drinnen vor sich geht, und rätseln, ob Verkehrsminister Alexander Dobrindt jetzt wirklich nur noch mit dem Elektroauto von Termin zu Termin fährt oder bloß diesmal zum Vorzeigen.

Man tagt leger

Drinnen am Tisch im großen Speisesaal haben die Herren Donnerstagfrüh weitgehend die Jacketts abgelegt. Man tagt leger im weißen Oberhemd. Für einige war die Nacht kürzer. Gabriel will sich keine Details entlocken lassen, weil, sagt er: „Sonst wird der nächste Abend schwieriger.“ Aber als jemand die quasi unvermeidliche Frage nach dem „Geist von Meseberg“ stellt, entschlüpft dem Vizekanzler doch die dahingeknurrte Auskunft: „nach Mitternacht – Himbeergeist“.

Derlei Geister sind dem inneren Zusammenhalt bekanntlich förderlich. Und darin liegt der eigentliche Sinn dieser Treffen. „Teambuilding“, sagt einer, der schon öfter dabei war. Ein Kabinett hat dazu sonst erstaunlich wenig Gelegenheit. Da werkelt jeder Minister so vor sich hin, alle paar Wochen sieht man sich rund um den großen Kabinettstisch im Kanzleramt. Für ein paar entspannte, auch mal persönliche Worte ist im Terminplan einer Bundesregierung wenig Platz. In Meseberg können sich die Neuen kennenlernen, und die Sicherheitsleute können die Neuen kennenlernen, sodass demnächst zum Beispiel der neue Entwicklungsminister Gerd Müller von einem Fernsehauftritt draußen wieder ins Schloss reinkommt, ohne von der Polizei nach dem Ausweis befragt zu werden.

Arbeitsfrieden in der Ministerrunde

Merkel jedenfalls hat immer großen Wert auf Teamgeist gelegt. In Koalitionsrunden kann man sich parteipolitisch zoffen, dafür sind sie da. Aber Arbeitsfrieden in der Ministerrunde – darin liegt eins der Erfolgsgeheimnisse ihrer Regentschaft.

Ob das diesmal wieder funktioniert – das zu beurteilen, ist es ehrlicherweise ein bisschen früh. Man hat ja noch wenig gesehen von dieser Regierung. Rekordträchtige 82 Tage lang haben sie koalitionsverhandelt, sind danach redlich erschöpft in den kurzen Weihnachtsurlaub gegangen, und dabei ist die Kanzlerin im Schnee gestürzt. Seither wird Deutschland quasi unsichtbar regiert. Merkel ist zwar so oft wie möglich im Büro, aber öffentliche Auftritte sind noch auf Wochen hinaus aufs Allernötigste beschränkt. Die Pressekonferenz in Meseberg findet am Tisch statt. Ein Mitarbeiter nimmt der Chefin die Krücken ab. Manchmal ruckelt Merkel leicht auf dem Stuhl hin und her. Angebrochene Beckenknochen tun lange weh.

Kleine Raufereien - kein Fehlstart

Die Unsichtbarkeit der Kanzlerin hat vermutlich indirekt zu jenem wenig vorteilhaften Erscheinungsbild beigetragen, das ihre neue Regierung rund um den Jahreswechsel bot. Man konnte da leicht den Eindruck gewinnen, dass in Abwesenheit der Katze die Mäuse auf dem Tisch tanzen. Die bayerischen Mäuse lärmen ja immer zum Jahresanfang herum. Aber auch ein paar frische rote Mäuslein am Kabinettstisch machten sich mausig.

Dabei hat es Heiko Maas aus dem Saarland schlauer angestellt als Manuela Schwesig aus Mecklenburg-Vorpommern. Die forsche Familienministerin musste ihren Vorstoß für eine steuerfinanzierte 32-Stunden-Woche für junge Eltern im Ordner „Visionen (für vielleicht später mal)“ ablegen. Der Justizminister kann dagegen einen ersten Sieg verbuchen: Dass es sinnlos wäre, jetzt die EU-Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung umzusetzen, wenn der Europäische Gerichtshof sie absehbar in ein paar Wochen umkrempeln wird – dieser Einsicht hat sich auch die echauffierte Union nicht ganz verschließen können. Maas hat dem Innenminister Thomas de Maizière bloß versprechen müssen, dass er trotzdem schon ein Gesetz vorbereitet, damit es nach dem Urteil schneller geht.

Die späte Rache Guido Westerwelles

Solche kleinen Raufereien reichen eigentlich nicht für das böse Wort vom „Fehlstart“. Dass es trotzdem in der Welt war, wirkt wie die späte Rache Guido Westerwelles. Die letzte, die schwarz-gelbe Koalition hatte sich von ihrem Fehlstart nie erholt. Der Union sitzt diese Erfahrung in den Knochen. Aber die Nachdenklicheren sehen natürlich den grundlegenden Unterschied: Damals fand Krieg zwischen den Spitzenleuten statt, und es ging um prinzipielle Fragen. Diesmal schossen bloß die Neulinge am unteren Ende des Kabinettstischs kurz in die Luft. „Ist doch in Ordnung“, sagt einer der Regierungserfahrenen aus der CDU, „die haben sich dem Publikum bekannt gemacht.“ Guerilla-Marketing statt Fehlstart – so kann man das durchaus sehen.

Merkel und Gabriel sehen es jedenfalls am liebsten genau so. Der SPD-Chef hat schon in dem knappen Auftaktstatement der beiden vor der Klausur den Start der Regierung kurzerhand für „gut“ erklärt und erhöht nach dem Treffen auf ein: „Ich finde, das war ein ausgezeichneter Start.“

Merkel sagt das gleiche, nur ein bisschen geschäftsmäßiger: „Wir haben jetzt einen klaren Arbeitsplan, und ich darf Ihnen berichten, wir haben auch genug zu tun.“ Wer will, darf das als sanften Hinweis lesen, nicht aus der Reihe zu tanzen. Aber wenn überhaupt, ist es ein sanfter Hinweis.

„Wir schaffen es nur gemeinsam.“

Denn gemeinsam ist den beiden unübersehbar der Wille zur Gemeinsamkeit. „Dies ist eine Regierung“, hat Merkel schon am Vortag betont, mit starkem Akzent auf dem „eine“. Jedes Projekt eines Ministers sei das Projekt der ganzen Regierung: „Wir schaffen es nur gemeinsam.“ Ihrem Vizekanzler ist sogar noch viel mehr an der Gemeinsamkeit gelegen. Dass es „die Aufgabe aller, alles zu tragen“ sei, sagt Gabriel. „Untermauert werden muss, dass wir gemeinschaftlich eine Regierung bilden.“

Es wäre leicht, solche Sätze als Schönschmuserei abzutun. Sie sind aber ernst gemeint, und von Gabriel ganz besonders. Er hat in der Weihnachtspause seine Eckpunkte zur Energiewende entworfen. Das Ding hat ihn voll im Griff. Gabriel hört am Donnerstag gar nicht mehr auf, darüber zu reden: Von der „Lernkurve“ der Politik bei der Förderung der Öko-Energien spricht er, wirbt um „eine faire Chance“ für die Offshore-Windkraft und vor allem und immer wieder dafür, dass sich eine gute Energiepolitik „nicht durch das Addieren von Einzelwünschen erreichen lässt“.

Eine Koalition der Vorläufigkeit

Die haben sich in den vergangenen Tagen lautstark zu Wort gemeldet, die Einzelinteressen. Wahrscheinlich sieht im ganzen Kabinett keiner so gut wie der frischbackene Wirtschafts- und Energieminister, wie sehr er auf einen Geist der Kameradschaft angewiesen ist, wenn er sich gegen diesen Widerstand behaupten will. Gabriel weiß, dass er für seinen Erfolg die Rückendeckung der Kanzlerin braucht.

Merkel weiß, dass sein Scheitern auch ihr Scheitern wäre. Ihr Preis ist, dass im Erfolgsfall ein Teil des Glanzes auf die Regierungschefin abfällt. Aber Gabriel zahlt den vermutlich gerne. Ihm winkt als Lohn die endgültige Verwandlung vom Zappel-Siggi in den seriösen Macher, der erst den Wahlverlierer SPD in die Regierung und dann ein Mega-Projekt zum Erfolg geführt hätte.

Für die nächsten zwei, drei Jahre sind die Kanzlerin und ihr Vizekanzler also wirklich zum gemeinsamen Erfolg verpflichtet. Leicht wird das übrigens nicht, selbst wenn die beiden an der Spitze ihr gemeinsames Interesse sehr deutlich sehen. Ein Stockwerk tiefer im großkoalitionären Gebäude hindert das ja niemanden, munter übereinander zu lästern. Bei der SPD zum Beispiel sticheln welche, dass bei der Union doch sicher bald ein großes Murren einsetzen werde angesichts der Tatsache, dass große Pläne derzeit nur in SPD-Ministerien in Sicht sind – Energiewende, Rente, Außenpolitik –, während die CDU-Minister in ihren neuen Ämtern noch leicht orientierungslos wirken. Dafür feixen bei der CDU welche darüber, dass Gabriel den stärksten Gegenwind in der Energiewende ausgerechnet von störrischen Parteifreunden in Ministerpräsidentenrängen bekommt.

Mäusekino zu Jahresanfang

Mit den Bayern muss er sich obendrein rumschlagen. Am Mittwoch haben die drei CSU-Minister Dobrindt, Müller und Hans-Peter Friedrich dem feierlichen Kabinettsbeschluss über Gabriels Energie-Eckpunkte eine Protokollnotiz beigegeben, dass man über die geplante Kürzung für Biogasanlagen nochmal sehr grundsätzlich reden müsse, wegen der Bedeutung der Mais-Vergasung für den Freistaat. Man kann daraus erstens lernen, dass Horst Seehofer sogar mit am Schlosstisch sitzt, wenn er gar nicht da ist, und zweitens, dass man Merkels Satz „Wir schaffen es nur gemeinsam“ unterschiedlich auslegen kann.

Derlei Hakeleien wären für sich genommen so wenig von Belang wie das Mäusekino zu Jahresanfang, stünden sie nicht exemplarisch für etwas, was diese große Koalition zumindest auch ausmacht. Beim ersten Bund der Volksparteien 2005 überwog nach Jahrzehnten der Gegnerschaft die alltägliche Überraschung darüber, dass Christ- respektive Sozialdemokraten auch Menschen sind. Diesmal wird das als bekannt vorausgesetzt – von ganz oben bis herunter zu den Referenten und Zuarbeitern der Fraktionen waren viele ja wirklich damals schon dabei.

Ein neues Traum-Duo

Trotzdem, oder vielleicht deswegen, vermittelt diese große Koalition Merkel II viel stärker als die erste den Eindruck eines taktisch befristeten Zweckbunds. Klar, man wird jetzt ein paar Jahre miteinander regieren; aber danach soll etwas anderes kommen. Und das wird ausdrücklich parallel vorbereitet. Die Neuauflage der schwarz-grünen „Pizza-Connection“ junger Abgeordneter hat ja große Mühe damit, wenigstens so zu tun als wäre sie ein irgendwie illegaler Geheimbund. Auf der anderen Seite haben rot-rot-grüne Gesprächskreise den Segen von oben.

Und bei dem neuen Traum-Duo da vorne am Tisch auf Schloss Meseberg sollte man eins auch nicht ganz vergessen: 2005 war der starke Mann der SPD Franz Müntefering, der nichts mehr werden wollte, und Merkel war gerade erst oben angekommen. Heute spinxt der SPD-Vormann auf den Sessel der Kanzlerin, und bei der Böll-Stiftung der Grünen wird dieser Tage zu einem Workshop zum Thema „Strategische Probleme jenseits von Angela Merkel“ eingeladen. Auch wenn das ein bisschen voreilig ist, vorläufig mehr dem Wunsch geschuldet als der Realität. Vorläufig hat ja die Regierung Merkel III gerade erst angefangen zu arbeiten. Vorläufig gilt für die da oben der Geist von Meseberg. „Das ist ein sehr professioneller Geist“, sagt Gabriel. Es ist, in all seiner Nüchternheit, ein ehrlicher Satz. Vielleicht ist eine Koalition der Vorläufigkeit, professionell betrachtet, gar keine schlechte Idee.

Dieser Text erschien auf der Dritten Seite.

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