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Koalitionsverträge: Der Bundestag braucht wechselnde Mehrheiten

Das Zulassen wechselnder Mehrheiten, könnte die Spannung zurück in den Bundestag bringen. Dagegen würde sich vor allem eine wehren: Merkel. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Til Knipper

Es war wohl der Überschwang des Sieges, der den SPD-Fraktionsvorsitzenden Thomas Oppermann zu seinem jüngsten Vorschlag verleitete. Den Sozialdemokraten hatte es sichtlich Spaß gemacht, bei der Abstimmung über die „Ehe für alle“ Bundeskanzlerin Angela Merkel und mit ihr den eigenen Koalitionspartner, die Unionsfraktion, am Nasenring durch die Bundestags-Manege zu führen. Gemeinsam mit den Stimmen der Oppositionsparteien hatte die SPD das Gesetz zuerst auf die Tagesordnung gehievt und ihm dann, auch mithilfe einiger Unionsabgeordneter, zu einer verdienten Mehrheit verholfen.

Nun hat Oppermann diese Woche verkündet, er hielte es für denkbar, in künftigen Koalitionsverträgen bei Themen mit großer Tragweite Öffnungsklauseln zu verankern, um den Abgeordneten eine Zustimmung ohne Fraktionsdisziplin zu ermöglichen. „Ob man sich in einem Koalitionsvertrag verabredet, bestimmte Fragen freizugeben, ist ein Gedanke, dem ich aufgeschlossen gegenüberstehe“, sagte er.

Dabei machte er gleichzeitig auf die parlamentarische Unsitte des Verbots wechselnder Mehrheiten aufmerksam, das die zulässige Fraktionsdisziplin de facto zum verfassungswidrigen Fraktionszwang werden lässt. Denn wer sich nicht an die Fraktionsdisziplin hält, kann aus der Fraktion entlassen werden oder erhält für die nächste Wahl einen aussichtslosen Listenplatz. Trotzdem finden sich entsprechende Klauseln schon seit Jahrzehnten in jedem Koalitionsvertrag auf Bundes- oder Landesebene: „Im Bundestag und in allen von ihm beschickten Gremien stimmen die Koalitionsfraktionen einheitlich ab. Das gilt auch für Fragen, die nicht Gegenstand der vereinbarten Politik sind. Wechselnde Mehrheiten sind ausgeschlossen“, lautet die Vorschrift im Koalitionsvertrag der großen Koalition von 2013.

Die Abgeordneten könnten ihrer tatsächlichen Rolle nachkommen

Oppermanns Vorschlag hätte daher durchaus Charme, weil bei einer konsequenten Umsetzung der Bundestag als gesetzgebende Gewalt eine signifikante Aufwertung erhielte. Und mit ihm auch die Abgeordneten. Nicht umsonst zählen einige der Debatten, in denen die Fraktionsdisziplin aufgehoben wurde, zu den Sternstunden des deutschen Parlamentarismus, wie die Debatten um den Hauptstadtumzug oder zur Präimplantationsdiagnostik.

Das Zulassen wechselnder Mehrheiten könnte gleichzeitig auch die Debatten im Bundestag wieder spannend machen. Die Abgeordneten müssten einander mit Argumenten überzeugen, um Mehrheiten zu bekommen und Gesetze zu verabschieden. Der Bundestag könnte sein Image als Kanzlerwahl-Verein und Stimmviehstall loswerden, wo jeder nach Vorgabe seines Fraktionschefs abzustimmen hat.

Die Abgeordneten könnten ihrer tatsächlichen Rolle nachkommen, die Arbeit der Regierung zu kontrollieren. Diese Kontrolle findet ja derzeit nur noch auf dem Papier statt, weil im grauen Parlamentsalltag der Ära Merkel die Koalitionsfraktionen die Regierung bedingungslos unterstützen. Gleichzeitig könnten sich die Abgeordneten zu Hause in ihren Wahlkreisen auch nicht mehr hinter der Fraktionsdisziplin verstecken, um unliebsame Entscheidungen zu verteidigen, sondern stünden selbst stärker in der Verantwortung. Gravierende Grundrechtseingriffe, wie kürzlich die Ausweitung des Einsatzes des Staatstrojaners, ließen sich nicht mehr ohne Weiteres in den Gesetzgebungsgang hineinmogeln.

Merkel will keine öffentlichen Debatten über Alternativen zu ihrer Politik

Konsequenterweise gehörten auch starre Koalitionsverträge der Vergangenheit an, die auf Hunderten von Seiten bereits vorab jeden Spiegelstrich des politischen Programms der Legislaturperiode festlegten. Ein unwürdiges Prozedere, bei dem dem Parlament nur noch das stumpfe Abarbeiten Punkt für Punkt bleibt.

Stattdessen wäre es ausreichend, die wichtigen anstehenden Großprojekte zu definieren, auf die sich die Koalitionspartner einigen können. Der Rest könnte im Parlament beim „Streit um die besten Ideen“ entschieden werden, wie es Österreichs Bundeskanzler Christian Kern kürzlich ausdrückte. Der muss bis zur anstehenden Wahl mit wechselnden Mehrheiten regieren , weil seine Koalition mit der österreichischen Volkspartei gerade geplatzt ist.

Für seine deutsche Amtskollegin muss sich das alles wie ein Albtraum anhören. Ein selbstbewusstes Parlament mit unabhängigen Abgeordneten untergräbt ihre Strategie der Entpolitisierung. Merkel will keine öffentlichen Debatten führen über Alternativen zu ihrer Politik. Ihre Flüchtlingspolitik, die wichtigste Entscheidung der vergangenen vier Jahre, erläuterte sie lieber in ihrer Haus- und Hof-Talkshow Anne Will. Und auch ihr Vorgehen bei der „Ehe für alle“ war respektlos gegenüber dem Parlament und vor allem gegenüber der LGBT-Community. Statt im Bundestag offen für ihre eigenen Überzeugungen einzutreten, gab sie die Abstimmung, wieder bei einer Talkveranstaltung, per ordre Mutti frei und stimmte dann kommentarlos dagegen.

Man möchte rufen: Herr Oppermann, übernehmen Sie! Mit dem kleinen Schönheitsfehler, dass die SPD ab Herbst wohl in der Opposition sitzen wird.

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