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Die Chefs der drei Koalitionsfraktionen Horst Seehofer (CSU), Angela Merkel (CDU) und Sigmar Gabriel (SPD) bei der Pressekonferenz nach Unterzeichnung des neuen Regierungsprogramms.

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Koalitionsvertrag vorläufig unterzeichnet: Die große Koalition kann noch scheitern

Sie haben es geschafft. Wenigstens vorläufig. Wobei allein das schon nicht einfach war. Für einen kurzen Moment in diesen langen Stunden lag sogar ein Scheitern in der Luft. Ganz sicher ist die große Koalition jetzt immer noch nicht. Die SPD-Basis hat das letzte Wort.

Von Robert Birnbaum

Drei schlichte Schreibtische haben sie auf die Fraktionsebene im Reichstag gestellt, strapazierfähige Holzplatten, blecherne Sichtblenden, dahinter drei Stühle. Das einsame Büroensemble bietet nicht ganz die Bühne, die man vom Auftakt zum gemeinsamen Regieren gewohnt ist. Aber es passt andererseits zu einem Akt, der ausdrücklich angekündigt ist als die „vorläufige Unterzeichnung des Koalitionsvertrages“. Immerhin wirken die drei Hauptdarsteller nicht mehr so blass um die Nase wie ein paar Stunden zuvor.

Angela Merkel hat sich zum knallgrünen Jackett über dem schwarzen Top entschlossen, was aber nicht politisch gemeint ist, sondern für die Hoffnung steht. Drei Mappen mit drei Verträgen, drei Mal drei Unterschriften, zum Schluss steht die Kanzlerin auf und drückt Horst Seehofer und Sigmar Gabriel die Hand. „Danke für die Zusammenarbeit“, sagt sie. Dann ziehen die drei weiter zur Pressekonferenz. Aber vorher muss der Volker Kauder einfach noch den SPD-Chef bei der Schulter packen: „Bleibense ’n anständiger Kerl, Mann!“

Sigmar Gabriel kann im Moment wahrscheinlich jeden Zuspruch brauchen, notfalls sogar vom Fraktionschef der Union. Sie haben es geschafft. Aber eben nur: vorläufig. Und der Rest – der Rest ist jetzt ganz alleine seine Sache.
Einfach war schon das Vorläufige nicht. Das haben alle spätestens in dem Moment gewusst, als am Dienstagabend wie bestellt die Mitglieder der großen Koalitionsverhandlungsrunde im Willy- Brandt-Haus eintrudelten. Den ganzen Montag hindurch hatte eine kleine Spitzengruppe sich durch den vorläufigen Koalitionsvertrag gewühlt. Seit Dienstagmittag saß die Truppe wieder beisammen – die Parteichefs, die Fraktionsspitzen, die Generalsekretäre, mehrere Länderfürsten. Aber der 15er-Kreis brauchte noch Zeit. Man möge sich, bitte, bereithalten. Als die CDU-Vizevorsitzende Julia Klöckner wissen wollte, wie lange, schaute Merkel sie schräg von der Seite an: „So bis vier, fünf Uhr würd’ ich mal sagen.“ Sie sollte Recht behalten.

Das Warten verlief soweit angenehm

Das Warten ist übrigens so weit ganz angenehm verlaufen, zumal die Gastgeber im sechsten Stock der SPD-Zentrale eine kleine Sessel-Lounge aufgebaut hatten, das Asia-Buffet zu späterer Stunde um Buletten ergänzten und als Spezialservice zwei Fernseher aufgestellt hatten mit extra geordertem Bezahlfernsehen. Das halbe Hundert Spitzenpolitik, darunter praktisch der gesamte Bundesrat, konnte also live verfolgen, wie Borussia Dortmund die Neapolitaner schlug und Schalke 04 sich mit viel Glück in Bukarest ins Unentschieden rettete.

Danach haben sie Handy-Fotos gemacht und geplaudert über dies und das und über Parteigrenzen hinweg. Peter Hintze von der CDU zum Beispiel berichtet, dass er sich gut mit dem SPD-Linken Ralf Stegner unterhalten habe, „was ich nie gedacht hätte – er wahrscheinlich auch nicht“. Hintze ist dann aber in weiser Voraussicht bald nach Hause gegangen und hat sein Handy neben das Bett gelegt. Er kennt seine Kanzlerin. Wenn die sagt, es dauert, dann dauert es.

Die Krise kam in den frühen Morgenstunden. Der Mindestlohn war da schon ein paar Stunden lang abgeräumt, die Formel für die Maut abgesegnet, das viele Milliarden Euro teure Rentenpaket gebilligt, als der letzte dicke Brocken auf den Tisch kam: Finanzen. Am Montag hatte die SPD-Seite der Unionsseite einen Forderungskatalog hingelegt, bei dem dort einigen kurz der Atem stockte: 45 Milliarden Mehrausgaben, darunter dicke Batzen Bildungsgelder für die Länder.

„Wir dachten, die hätten allmählich kapiert, dass bei uns keine höheren Steuern zu holen sind“, ärgerte sich ein CDU- Mann. Selbst in der SPD wurde manchem mulmig vor dem eigenen Mut. Zwischendurch, berichtet ein Sozialdemokrat, habe plötzlich auch unter den SPD-Verhandlern eine diffuse Angst im Raum gestanden, dass die Gespräche womöglich doch scheitern könnten.

Gabriel ist recht aufgeräumt

Aber die Schrecksekunde ging vorüber. Als irgendwann zwischendurch im kleinen Kreis die NRW-Ministerpräsidentin Hannelore Kraft etwas heftiger wurde und drohte, wenn die Union jetzt nicht nachgebe, „dann können wir das auch ganz lassen“ – da hat das schon keiner mehr richtig ernst genommen. Kraft gilt seit ihrer rasanten Kehrtwende von der grimmigen Gegnerin zum geschmeidigen Adabei der großen Koalition sowieso als etwas zu wortstark.

Trotzdem: Zwischen den 45 SPD-Milliarden und den 15 Milliarden Euro, die die Union auf den Tisch legen wollte, lauerte die Möglichkeit des Scheiterns. Und es bedurfte eines sehr ernsten Sechs-Augen-Gesprächs, in dem die drei Parteivorsitzenden das Finanztableau alleine schnürten. Wahrscheinlich verstehen deshalb anderntags nicht mal die eigenen Finanzexperten so ganz genau, wie die Zahlen zusammenkommen, irgend etwas zwischen angeblichen 23 und aber im Koalitionsvertrag aufgelisteten 30 Milliarden Euro Mehrausgaben.

Merkel wird das später so erläutern, dass sich manche Ausgaben über die Jahre hinweg verteilten, weshalb man nicht einfach zusammenzählen dürfe, und außerdem sei bei den 15 CDU-Milliarden ja auch „Verhandlungstaktik“ im Spiel gewesen. Gabriel links neben ihr zieht die Augenbrauen hoch und tut überrascht: Echt, ihr habt den Haushalt ärmer gerechnet als er ist? Gabriel ist überhaupt recht aufgeräumt, als sich das Trio der Bundespressekonferenz stellt, übertroffen nur noch von Seehofer, bei dem das in solchen Momenten freilich gewohnheitsgemäß der Fall ist.

Wie ein Kabinett aussieht – es bleibt geheim

Andererseits – der CSU-Chef kann wirklich zufrieden sein, vorläufig. Die Union darf das Betreuungsgeld behalten, hat die Mütterrente eingeräumt bekommen, und obendrein steht die Pkw-Maut im Vertrag drin, so wie Seehofer das im Wahlkampf lautstark gefordert hatte. Dass mittelwichtige SPD-Politiker und mittelwichtige CDU-Politiker zu Protokoll geben, sie glaubten trotzdem nicht daran, dass die Maut kommt – Seehofer tut es als absonderliche „Interpretationen“ ab. Und dass in dem Vertrag nicht steht, dass die Maut kommt, sondern dass eine mit Europarecht vereinbarte Maut kommt, wenn sie keinen deutschen Autofahrer zusätzlich belastet – ja diese zwei Voraussetzungen stünden doch genau so schon im „Bayernplan“. Der „Bayernplan“ war das CSU-Privatprogramm neben dem Wahlprogramm der ganzen Union. Der „Bayernplan“, sagt Seehofer, sei gewissermaßen die Vorstufe zu diesem Koalitionsvertrag gewesen.

Aber das ist nicht ganz richtig. Es gibt noch ein viel größeres Vorbild für die 185 Seiten, die sich die künftigen Koalitionäre als Arbeitsprogramm aufgeschrieben haben. Und dieses Vorbild ist das SPD-Wahlprogramm. Sehr viele der Forderungen, mit denen die Sozialdemokraten in die Wahl gezogen sind, finden sich wieder: Mindestlohn, Frührente mit 63, der Doppelpass als Regel für Ausländer-Kinder, sogar die Lkw-Maut auf Bundesstraßen hat den Weg in das Vertragswerk gefunden.

Die Überschriften klingen sozialdemokratisch

Fast alle dieser Regelungen haben zwar eine Fußnote aus der Feder der Union, weshalb die CSU-Landesgruppenchefin Gerda Hasselfeldt ihren Abgeordneten später auch sagen wird, die Union habe aus „zum Teil hochfliegenden Wünschen der SPD vernünftige Projekte gemacht“. Aber die Überschriften klingen trotzdem sozialdemokratisch.

Gabriel hat denn auch im Morgengrauen, als die Chefs der großen Verhandlungsrunde die Ergebnisse vorstellten, der Union und der Kanzlerin nicht nur für ihre Fairness gedankt. Das wird er später öffentlich wiederholen: Zu keinem Zeitpunkt in den Gesprächen habe er das Gefühl vermittelt bekommen, dass einer der Beteiligten den anderen von oben herab behandle. In der internen Runde hat er aber einen Satz hinzugefügt, in dem viel Erleichterung steckt und große Dankbarkeit: „Wir wissen, dass die CDU mit diesem Wahlergebnis anders hätte auftreten können.“

Das hätte sie wirklich, rauschende Siegerin gegen Wahlverlierer. In der CDU gibt es nach wie vor manche, die das gerne gesehen hätten. Aber Merkel hat weiter gedacht. Daran, dass sich mit einem gedemütigten Partner nicht vernünftig regieren lässt. Vielleicht auch daran, dass es gar nicht so übel ist, wenn mit diesem Vertrag ab jetzt die SPD für sie das mühselige Geschäft erledigt, die CDU noch etwas weiter an die gesellschaftspolitische Mitte heranzuführen.

Deshalb hat die CDU-Chefin dem künftigen Partner ja auch die letzte kostenfreie Bitte noch erfüllt. Wie ein Kabinett aussieht – es bleibt geheim. Gesprochen haben die drei darüber, Merkel bestätigt es ausdrücklich. Aber das Ergebnis behalten sie für sich, bis die SPD-Mitglieder den Vertrag gebilligt haben.

„Warten“, sagt die Kanzlerin, „warten kann ich.“

Das ist der einzige Punkt, bei dem es mit Gabriels öffentlicher Aufgeräumtheit anfangs nicht recht klappen mag. Es habe eben den Wunsch innerhalb der SPD gegeben, nur über den Inhalt des Koalitionsvertrags abzustimmen und nicht über Personalfragen. Ziemlich leise wird der SPD-Chef bei diesem Satz, ein wenig missmutig auch. Natürlich ist der Beschluss absurd, und einige in der SPD räumen freimütig ein, dass er von Angst getrieben ist. Wenn die SPD-Größen in den nächsten zwei Wochen um die Stimmen ihrer Basis werben, dann soll keiner der Werber in die Gefahr kommen, als dienstwagengeil verteufelt zu werden.

Ob die Geheimnistuerei funktioniert? Schließlich kann sich auch das einfache SPD-Mitglied ausrechnen, wer auf einen Ministersessel passen würde. Gabriel selbst zum Beispiel spricht so glühend begeistert davon, welche Jahrhundertaufgabe die Energiewende sei, ja sogar das größte Werk nach der deutschen Einheit – da liegt der Gedanke schon irgendwie nahe, dass in der Nacht im Kreis der Drei ein Wirtschafts-Energieminister namens Sigmar G. vereinbart worden ist.

Aber Merkel hat ihm den Gefallen getan, und Seehofer lobt das Schweigegelübde sogar als „kluge Entscheidung“. Überhaupt, dieser ganze SPD-Mitgliederentscheid – gar kein Problem. Anderswo hätten Parteitage das letzte Wort über Koalitionsverträge, da hätten vielleicht 100 Delegierte ein Veto-Recht – „insofern ein ganz normaler Vorgang“, sagt Merkel.

Vielleicht wäre er trotzdem gar nicht nötig. So wie es vielleicht auch übertriebene Vorsicht war, dass die SPD darauf bestanden hat, dass kurz vor Morgengrauen noch alle 75 Mitglieder der großen Runde ihre Unterschrift unter den Vertrag setzen. In langer Schlange haben sie sich aufgereiht vor einem Stehpult und das Werk beglaubigt. Das hat noch mal zehn Minuten weniger Schlaf bedeutet. Jetzt muss nur noch die SPD-Basis gegenzeichnen. Doch nach dieser langen Nacht ist es mehr als Zweckoptimismus, wenn Gabriel sagt, dass er sicher sei, dass sich die SPD einem „Vertrag für die kleinen und fleißigen Leute“ nicht verweigern werde. Merkel wird es gelassen abwarten. „Warten“, hat die Kanzlerin dazu angemerkt, „warten kann ich.“

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