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Der Autor und Schriftsteller Deniz Utlu, aufgenommen am 25. Mai 2017 in Berlin.

© Kitty Kleist-Heinrich

Kolumne: Einträge ins Logbuch: Es gibt diesen Gesichtsausdruck, das neue Antlitz Europas

Der Schriftsteller Deniz Utlu liest bei seinen Reisen durch Europa in den Gesichtern der Menschen. Er liest dort: den Populismus. Teil eins seiner neuen Kolumne: Einträge ins Logbuch.

Ich kenne diesen Gesichtsausdruck. Zwischen Verlegenheitslächeln und Horror. Etwas wird Wirklichkeit, das immer nur Schreckensbild bleiben sollte. Die Mimik kann noch nicht annehmen, was passiert, aber die Spuren der Politik in den Gesichtern sind bereits erkennbar. Man könnte diesen Ausdruck mit Frust verwechseln, doch das wäre eine Unterstellung.

Es gibt diesen Gesichtsausdruck - er ist das Antlitz Europas geworden

Ich habe ihn in einigen polnischen Gesichtern gesehen, als sie von ihrer Regierung sprachen, vor allem wenn sie den Namen Kaczynski in den Mund nahmen. Ich habe ihn gesehen bei Menschen aus der Türkei, lange vor dem Referendum, lange vor der Wahlwiederhoung im November 2015. Diesen Gesichtsausdruck habe ich zwischen den Zeilen einer Freundin aus Marseille gelesen, einen Tag vor der Wahl in Frankreich. Sie ist Theaterautorin, ihre Texte sind pur und poetisch. In ihrer Rundmail entschuldigt sie sich für ihr Pathos und ruft ihre in Frankreich wahlberechtigten Freunde auf – sie selbst ist es nicht – ihre Stimme zu nutzen. Sie schreibt versöhnlich von ihrem neugeborenen Kind, das weder für Geschichte noch für die politische Gegenwart ein Bewusstsein hat. In ihren Zeilen sehe ich die Gesichter zwischen Scharfsinn, Ungläubigkeit und Horror, denen ich auf einer Reise in Polen begegnet bin, denen ich auf Reisen in die Türkei vor einem Jahr, vor zwei Jahren begegnet bin. Dieser Gesichtsausdruck, denke ich, ist das Antlitz Europas geworden. Le Pen hat am 7. Mai verloren (hat sie das? Der Front National ist stark wie nie zuvor). Aber heißt das, dass wir jetzt unsere Gesichtszüge entspannen können?

Ich habe ihn gesehen - im Berlin-Warschau-Express

Im Berlin-Warschau-Express erzählt mir eine Reisegefährtin, eine polnische Übersetzerin, die in Berlin lebt, von der politischen Situation in Polen. Von der Radikalität der Regierung gegenüber Flüchtlingen – niemand, kein einziger sollte aufgenommen werden. Von den aufstachelnden Predigern in Kirchen. Von öffentlichen Medien als pure Propaganda-Instrumente. Von einem Germanistikprofessor, der in der Bahn zusammengeschlagen wird, weil er dort deutsch und nicht polnisch gesprochen hat. Bei einer Führung durchs jüdische Museum Polin, erzählt die Reiseleiterin, die mich und andere Autorinnen begleitet, nicht ohne Stolz, dass viele Juden jetzt wieder zurückkehren würden nach Polen. Immerhin hatte hier vor der Shoa die größte jüdische Community Europas gelebt. Ich frage sie, auf wann sie sich bezieht, wenn sie von Rückkehr spricht: auf heute oder die Zeit vor der jetzigen Regierung. Und dann ist da wieder das europäische Gesicht, und keine Antwort ist nötig. Sie gibt sie trotzdem: „Davor“, sagt sie, aber sie hoffe – sie sagt „wir hoffen“ –, dass man das nicht mehr aufhalten kann. Ich kenne diese Tonlage, diesen Duktus. Überall in Europa habe ich ihn schon gehört. Kaczynski regiert nicht nur in Polen. (Absurderweise regiert er formell ja tatsächlich nicht, Beata Szydlo ist Premierministerin, aber aber aber). Die Kaczynskis, Orbans, Erdogans, Le Pens, etc., ob sie an der Regierung sind oder nicht, lassen überall in Europa den Leviathan wachsen – den monströsen Herrscher, der aus seinen Untertanen besteht und seine Existenz mit dem Krieg aller gegen alle rechtfertigt.

Der europäische Populismus ist flüssig, er sickert überall ein

Die Grenze des europäischen Populismus verläuft nicht zwischen den Ländern, noch nicht einmal zwischen den Individuen. Er ist flüssig, sickert überall ein, manche Wände sind resistenter als andere, aber da ist eine allgemeine Anpassung, eine Normalisierung des Populismus: in medialen Debatten, im politischen Wahlkampf, im zwischenmenschlichen Umgang miteinander. Und während das Problem einzelne Länder, Gruppen oder Personen sein sollen und wir Platzhalterdebatten über nationale (!) Loyalität führen, zerrinnt uns Europa zwischen den Fingern.

In Warschau bin ich einer Anekdote des Schriftstellers Witold Gombrowicz begegnet, in der er beschreibt, wie er zu einem Stammgast einer Warschauer Kneipe verkommen sei. Die Kneipen seien dunkel und voller Rauch gewesen im Warschau seiner Zeit, sodass man beim Eintreten zunächst nichts gesehen habe. Nur dann und wann leuchteten schmutzige Fratzen, buschige Schnurrbärte und die Umrisse hinterhältiger Vorstadttrickser auf. Und doch: Dies war ein Poeten-Café. „Denn“, schreibt Gombrowicz, „Poeten, ähnlich wie Ungeziefer, kommen an den seltsamsten Orten auf die Welt.“

In diesem rauchigen Café Europa schimmert immer noch Poesie auf. Das nimmt nicht den Schrecken aus unseren Gesichtern, gibt ihnen aber vielleicht eine Richtung, in die sie sich wenden können.

Deniz Utlu ist Schriftsteller. Er schreibt seit Juni 2017 im wöchentlichen Wechsel mit Pascale Hugues eine Kolumne im Tagesspiegel am Samstag. Lesen Sie hier ein Porträt.

Deniz Utlu

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