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Von Merkel eingeladen? Ein Flüchtling Anfang September 2015 auf dem Budapester Keleti-Bahnhof.

© Bernadett Szabo/Reuters

Korrigierte Flüchtlingszahlen: CDU-Politiker wirft Populisten "hysterische Debatte" vor

Innenminister de Maizière hat die Zahl der Flüchtlinge in Deutschland deutlich nach unten korrigiert. CDU-Politiker Laschet kritisiert auch die Koalition. Ungenauigkeiten lassen sich in der Statistik kaum vermeiden.

Weniger Flüchtlinge in Deutschland, das gilt nicht erst für 2016 - auch fürs letzte Jahr waren die Zahlen zu hoch gegriffen. Am Freitag hat Bundesinnenminister Thomas de Maizière die bisher genannte Zahl von mehr als einer Million korrigiert: Tatsächlich kamen 2015 rund 890.000 Asylsuchende nach Deutschland und nicht die 1,1 Million, die das Erstregistrierungssystem für Asylsuchende ("Easy") 2015 erfasst hatte.

Auch die neue Zahl ist noch die höchste in der Geschichte der Bundesrepublik. Bisher galt 1992 als Rekordjahr, als knapp 440.000 Menschen in Deutschland Asyl beantragten. Unter dem Eindruck dieser Zahl hatten Union, FDP und SPD damals den Asylartikel des Grundgesetzes massiv eingeschränkt.

Der nordrhein-westfälische CDU-Landesvorsitzende Armin Laschet zeigte sich zufrieden über die Korrektur: „Es ist gut, dass jetzt endlich einmal exakte Zahlen für 2015 vorliegen“ – und kritisierte im Gespräch mit dem Tagesspiegel auch Teile der eigenen Regierungskoalition: "Es zeigt sich, dass viele Szenarien die verbreitet wurden, völlig überzogen waren. Und klar ist: Diese hohe Zahl wird sich mit Sicherheit 2016 nicht wiederholen.“

Es sei aber auch letztes Jahr „immer klar“ gewesen, „dass es keine Million werden würde. Menschen wurden mehrfach registriert, die Erfassungssysteme waren unterschiedlich und nicht aufeinander abgestimmt.“ Dass Populisten dennoch mit vagen Zahlen Stimmung machen und eine „hysterische Debatte“ lostreten konnten, sei wenig überraschend, sagte Laschet. „Erschütternd ist allerdings, dass auch Teile der politischen Klasse die Fakten ignoriert haben.“ Er hoffe, dass „jetzt auch der Unsinn vom Tisch“ sei, die Kanzlerin habe die Flüchtlinge erst ins Land geholt. „Mit 800.000 Flüchtlingen kalkulierte das Bundesinnenministerium bereits ab Ende Juli, lange vor Merkels Entscheidung vom 4. September.“

"Es gab keine massenhafte unkontrollierte Einwanderung"

Auch die brandenburgische Grünen-Europaabgeordnete Ska Keller, in Straßburg Sprecherin ihrer Fraktion für Migration und Asylpolitik, macht im Gespräch mit dem Tagesspiegel darauf aufmerksam, dass die neue Zahl dicht an jenen 800.000 ist, die der Minister noch im Sommer 2015 für das ganze Jahr prognostiziert hatte: "Es gab also gar keine massenhafte unkontrollierte Einwanderung. Die Behauptung, im September, nach der Krise in Ungarn, seien alle Schleusen offen gewesen, die deutsche Aufnahmebereitschaft damals habe erst eine Fluchtwelle ausgelöst, stimmt offensichtlich nicht."

Anfang September hatte Bundeskanzlerin Angela Merkel gemeinsam mit Österreichs damaligem Kanzler Werner Faymann entschieden, jene syrischen Flüchtlinge aufzunehmen, die damals in Ungarn festsaßen, weil die Regierung in Budapest sie nicht weiterreisen ließ. Dies wurde später immer wieder als "Einladung" Merkels an die Flüchtenden interpretiert, die sich daraufhin erst auf den Weg nach Norden gemacht hätten - zumal die Kanzlerin wenige Tage zuvor, am 31. August, vor der Berliner Hauptstadtpresse ihre Zuversicht ausgedrückt hatte, dass Deutschland die Flüchtlingskrise bewältigen werde: "Wir schaffen das."

In der Rhetorik der Koalitionspartnerin CSU und der politischen Rechten erschien die Kanzlerin fortan als mindestens sträflich leichtsinnig, die AfD machte mit dieser Lesart Wahlkampf. Im europäischen Ausland, besonders in den östlichen Mitgliedsstaaten, wurde Merkels Entscheidung als Vorwand genutzt, sich gegen Flüchtlinge abzuschotten. Das Problem habe Deutschland geschaffen und solle es auch auch allein lösen.

Die Grünen-Politikerin Keller nennt es daher wichtig, auf die neue Zahl des Bundesinnenministeriums hinzuweisen und sie zu nutzen: "Das sollte doch etwas Beruhigung in diese hysterische Debatte bringen." Und Keller fügt ironisch hinzu: "Anscheinend sind doch immer noch Fluchtursachen an Flucht schuld und nicht Merkel-Selfies mit Flüchtenden."

Schätzungen und die Wirklichkeit

Das Ministerium hat seine Zahlen und Schätzungen in der Vergangenheit schon oft korrigieren müssen. Ursprünglich kalkulierte man mit 400.000 Menschen für 2015, dann wurde im Sommer die doppelte Zahl daraus. Schließlich stieg sie auf 1,1 Millionen, auch 1,2 Millionen wurden genannt. Im Januar sprach de Maizière dann von "etwas unter einer Million". Nun sind es, wohl endgültig, noch deutlich weniger.

Es gibt viele Gründe, warum die Behörden oft erst langsam oder gar nicht erkennen können, wie viele Menschen aus dem Ausland im Land sind. Der Innenminister und der Chef des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (Bamf) nannten bereits in der Vergangenheit mehrfache Registrierungen, etwa wenn an einzelnen Kontrollstellen die technischen Mittel fehlten, die Daten derer, die einreisen, zu erfassen oder zentral abzuspeichern.

Ein weiterer Grund ist, dass sich Flucht und Migration oft einer geordneten Bürokratie entziehen. Auch wer erfasst wird, verschwindet nicht selten vom Radar: So kamen 2015 rund 13 Prozent der als Asylbewerber registrierten Menschen nicht bei der zuständigen Erstaufnahmeeinrichtung an, ungefähr 142.000 Personen. Bamf-Chef Frank-Jürgen Weise hatte mehrfach eingestanden, dass man über den Verbleib Tausender Flüchtlinge nichts wisse. Oft suchen sie auf eigene Faust Unterschlupf, etwa weil sie nicht von ihren Angehörigen getrennt werden oder in seinerzeit oft überfüllten Notunterkünften untergebracht werden wollten.

Viele Flüchtlinge reisen zu Verwandten weiter, die bereits länger in Europa leben. Schweden etwa ist deswegen ein Ziel vieler und gehört ohnehin zu den Ländern, die am meisten Flüchtlinge aufgenommen haben. Raus aus Deutschland und weiter zu Angehörigen anderswo in Europa: Das ist oft der Weg vieler junger und unbegleiteter Flüchtende. Das Bundesinnenministerium bezifferte im April die Zahl "verschwundener" geflüchteter Kinder und Jugendlicher auf fast 6000. Europol schlug zuvor Alarm: Von 5000 der allein in in Italien registrierten 10.000 jungen Flüchtlinge wisse man nicht, wo sie geblieben seien.

Merkel: Ich habe Politik nicht geändert, sondern Politik gemacht

Die Kanzlerin verteidigte ihre Flüchtlingspolitik an diesem Wochenende erneut und trat in einem Interview der "Sächsischen Zeitung" auch der Auffassung entgegen, sie habe ihren Kurs gewechselt - inzwischen gibt es ein Abkommen mit der Türkei, die syrische Flüchtlinge im eigenen Land halten soll, die Balkanroute nach Norden ist praktisch dicht und Deutschland hat den Familiennachzug für Menschen, die bereits hier sind, massiv erschwert.

"Ich habe meine Politik nicht geändert, sondern Politik gemacht", sagte Merkel. "Mir ging es immer darum, den EU-Außengrenzschutz zu verbessern, die Fluchtursachen zu bekämpfen und so zu erreichen, dass sich die Zahl der Flüchtlinge verringert." Sie verfolge "eine in sich schlüssige Politik seit vielen, vielen Monaten". Die "humanitäre Verantwortung denen gegenüber, die vor Krieg und Terrorismus in Europa Schutz suchen, bedeute aber auch, dass man "legale Kontingente vereinbaren" müsse, "um sie angemessen auf die EU-Mitgliedsstaaten zu verteilen".

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