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Politik: Krach will gelernt sein

Von Christoph von Marschall

Die Regierung treibt den größten Konzern des Landes mutwillig in die Pleite. In Deutschland wäre das undenkbar. Kanzler Schröder tritt in Firmenkrisen gerne als Nothelfer auf, wie bei Holzmann und Bombardier. Freund Putin dagegen, den er heute in Moskau besucht, macht weltweit Schlagzeilen mit seinem Vorgehen gegen den Ölmilliardär Chodorkowskij und dessen Firma Jukos. Es geht nicht in erster Linie um die 2,8 Milliarden Euro Steuerschulden, die hat der Kreml über Jahre ignoriert. Sie sind für Putin Mittel zum Zweck. Er will den privatisierten Teil der Ölindustrie wieder verstaatlichen. Da wird der Fall auch für Deutschland bedenklich; ein Drittel unserer Öl und Gaseinfuhren stammt aus Russland. Der Kanzler und die Manager, die ihn begleiten, müssen sich zudem Gedanken über die Sicherheit deutscher Investitionen in Putins Reich machen – und das Problem ansprechen.

Das Wertesysten eines Landes zeigt sich daran, wie es Konflikte austrägt. Deutschland ist eine Konsensgesellschaft. Interessen sollen ausgeglichen werden. Um Streit zu schlichten, haben wir ausgefeilte Verfahren. Ziel ist der Kompromiss. Oft wird er durch finanzielle Hilfen erreicht. Dieses Befriedungsmodell gilt heute allerdings nicht mehr so uneingeschränkt als Vorbild wie in den 80er, 90er Jahren, sondern auch als eine Ursache der geringen Dynamik und Reformfähigkeit in Deutschland. Zu viel Konsens kann Gesellschaften lähmen.

Ganz anders in Russland. Der Streit um Ressourcen und Interessen wird mit großer Brutalität ausgetragen. Ob Tschetschenien, ob der Machtkampf des Kreml mit den Wirtschaftsgiganten oder das Wohlstandsgefälle zwischen Arm und Reich, das kein Sozialsystem abfedert: Der faire Kompromiss gilt nicht als Kunst, sondern bestenfalls als Notausgang. Im Regelfall muss es Sieger und Besiegte geben. Das ist das andere Extrem, wenn einem Land die Streitkultur fehlt.

Natürlich, man kann Russland nicht ohne weiteres mit Deutschland vergleichen. Wir haben keine Unruheregion wie den Kaukasus, in der sich Abspaltungswünsche regionaler Nationalisten mit islamistischem Terror verbinden. Wir haben auch keine neureichen Bosse, die sich ihr Firmenimperium in den Umbruchzeiten zusammengestohlen haben, ihre Steuerpflicht ignorieren und ihre Wirtschaftsmacht dazu missbrauchen, die Politik zu lenken.

Aber eines kann man ziemlich sicher sagen: Eine Gesellschaft mit dem Selbstverständnis der deutschen würde anders mit solchen Problemen umgehen. Auch sie würde sich verteidigen, aber es nicht ertragen, dass Krieg und Morden zehn Jahre weitergehen ohne ernsthafte Suche nach einer politischen Lösung wie in Tschetschenien. Sie hätte eine „Geiselbefreiung“, bei der neben den Kidnappern 129 Geiseln am Betäubungsgas der „Retter“ sterben, wie im Moskauer Musicaltheater Nordost 2002, nicht als Sieg gefeiert, sondern als Tragödie empfunden – und politische Konsequenzen gezogen. Sie würde Multimilliardäre, die ihre Steuern nicht zahlen, ebenfalls belangen, aber nicht, weil sie politisch unbequem werden. Und nur mit den Mitteln des Rechtsstaats.

Das alles ist in Russland anders, weil Staat und Gesellschaft bis heute mit den Mitteln aus den Jahrzehnten der Diktatur reagieren. Das gilt auch für die Wirtschaftsmagnaten vom Schlage der Chodorkowskij, Beresowskij, Gussinskij. Mit ihnen muss man kein Mitleid haben, sie sind keine Unschuldigen, protzen mit ihrem Reichtum, zeigen kaum soziale Verantwortung. Das Bedenkliche an Putins Vorgehen ist die Willkür. Jukos ist nicht der Auftakt, um Steuerehrlichkeit ohne Ansehen der Person durchzusetzen. Chodorkowskij war gelitten, solange er sich unterordnete. Weil er sich auflehnte, soll an ihm ein Exempel statuiert werden, das andere abschreckt. Und, angenehmer Nebeneffekt, der Kreml reißt das einträgliche Ölgeschäft an sich.

Es stimmt, Russland hat unvergleichbar größere Probleme. Aber ihm fehlt eine Streitkultur. Wer Zuflucht zur Willkür nimmt, führt das Land nicht zu Demokratie und Rechtsstaat, sondern in die dunkle Vergangenheit.

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