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Krankenkassen in der Krise: Schwer zu schlucken

Die großen Versicherer planen mit Zusatzbeiträgen – erwogen werden Aufschläge bis acht Euro im Monat.

Berlin - Die Frage ist längst nicht mehr ob sie kommen, sondern nur noch wann und wie viele. Zusatzbeiträge werden einem Großteil der 70 Millionen gesetzlich Krankenversicherten, davon sind inzwischen selbst Branchenoptimisten überzeugt, im kommenden Jahr nicht erspart bleiben. Unter den großen Kassen findet sich kaum noch eine, die diesen Schritt intern nicht längst vorbereitet. Erwogen werden Aufschläge von sechs bis acht Euro im Monat, die dann von den Arbeitnehmern allein aufzubringen sind.

Dass die Zusatzbeiträge vorerst in dieser Kostengröße bleiben dürften, hängt mit praktischen Erwägungen zusammen. Fielen sie geringer aus, stünde der Nutzen in keinem Verhältnis zu Aufwand und Risiko. Bei mehr als acht Euro dagegen wären die Versicherer zur Prüfung des jeweiligen Haushaltseinkommens verpflichtet – was eine gigantische und in ihren Kosten kaum absehbare Bürokratie zur Folge hätte. Zudem könnten sie dann einen Teil des Geldes gleich wieder in den Wind schreiben, da der Gesetzgeber keinen mit mehr als einem Prozent seines Einkommens für Zusatzbeiträge belastet sehen will.

Offiziell kanzelt der neue Gesundheitsminister die Prognose des Kassen-Spitzenverbands, dass im nächsten Jahr Zusatzbeiträge „in großem Maße“ zu erwarten seien, noch als Schwarzmalerei ab. Intern aber hat Philipp Rösler bereits kundgetan, dass er bei etwa 25 Versicherern damit rechnet. Und nach Angaben informierter Kreise dringt er auch darauf, dass die Versicherten diese Zumutung möglichst bald ereilt – um der alten Regierung dafür noch die Schuld geben zu können. Keinesfalls möchte der FDP-Politiker den zu erwartenden Ärger in zeitlicher Nähe zur nordrhein-westfälischen Landtagswahl haben. Im bevölkerungsreichsten Bundesland wird im Mai gewählt. Dass sich die unliebsamen Zusatzbeiträge groß über diesen Termin hinaus verzögern lassen, bezweifeln die meisten Experten.

Die Kassen aber verfolgen andere Strategien als der Minister. Sie versuchen, die Zusatzbeiträge noch so lange wie möglich zu vermeiden. Und weil das Vorpreschen Einzelner diesen im Wettbewerb leicht den Garaus machen könnte, sind die Verbände bestrebt, das Unangenehme, wenn es sich schon nicht vermeiden lässt, wenigstens im Kollektiv zu organisieren – und sich bis dahin gegenseitig unter die Arme zu greifen. Die Ersatzkassen etwa haben eine entsprechende Satzungsänderung erst Anfang Dezember beschlossen.

Sie taten es, weil ihnen das Wasser bis zum Hals steht. Während die Allgemeinen Ortskrankenkassen mit ihren vielen kranken und einkommensschwachen Mitgliedern vom verfeinerten Risikoausgleich profitieren und in den ersten drei Quartalen 2009 einen Überschuss von 900 Millionen Euro erzielten, lag das Plus der acht Ersatzkassen mit ähnlich vielen Versicherten bei bescheidenen 20 Millionen. Am besten steht unter ihnen noch die Techniker Krankenkasse da mit einem Plus von 65 Millionen Euro. Die Gmünder Ersatzkasse dagegen konnte den Offenbarungseid von Zusatzbeiträgen zum Jahreswechsel nur noch durch flotte Fusion mit der Barmer vermeiden. Und bei der DAK mit derzeit 77 Millionen Miesen wird diesbezüglich auch schon länger spekuliert. Allerdings versicherte Sprecher Frank Meiners, dass das Thema bei den Verwaltungsratssitzungen im Dezember und Januar keine Rolle spielen und die DAK „definitiv“ auch zum Februar 2010 noch keine Zusatzbeiträge verlangen werde.

So hangelt man sich von Monat zu Monat. Aufs Ganze gesehen werde der Steuerzuschuss von 3,9 Milliarden aber hinten und vorne nicht reichen, sagen Kassenfunktionäre und Gesundheitspolitiker unisono. Je nach Einschätzung fehlen noch mal drei bis vier Milliarden. Und dafür, so der SPD-Experte Karl Lauterbach, trage die neue Regierung Verantwortung. Sie habe den „Riesenfehler“ begangen, in ihrer Koalitionsvereinbarung kein einziges Sparvorhaben zu formulieren. Hätte sie das getan, so Lauterbach, hätte der Effekt bereits in den Kassenbilanzen berücksichtigt und das Gespenst der Zusatzbeiträge noch ein wenig gebannt werden können. „Einsteigen“ können hätte man ihm zufolge etwa bei den Arzneimitteln, die in Deutschland bis zu 40 Prozent mehr kosteten als im benachbarten Ausland. Die Rechnung für dieses Versäumnis müssten nun die Versicherten über Zusatzbeiträge bezahlen.

Wie die das aufnehmen werden, ist ungewiss. Mit Leistungsverbesserungen jedenfalls lässt sich der Kostenanstieg, der im Extremfall mehr als 400 Euro im Jahr ausmachen kann, schwerlich begründen. Und wenn fast alle Kassen zeitgleich oder nacheinander auf den Zug aufspringen, ist auch das schöne Sonderkündigungsrecht nutzlos. Der Wechsel zu einem anderen Anbieter macht dann kaum noch Sinn. Reaktionen vorauszusagen, trauen sich dennoch selbst erfahrene Gesundheitspolitiker kaum zu. Bei der Umstellung auf Einheitsbeiträge zum Jahresbeginn blieb der erwartete Aufschrei aus – obwohl seither mancher, der bislang bei einer günstigen Betriebskrankenkasse versichert war, deutlich tiefer in die Tasche greifen muss. Den Bürgerzorn auf die Einführung der Praxisgebühr vor fünf Jahren dagegen hatten die Reformer völlig unterschätzt.

 Rainer Woratschka

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