zum Hauptinhalt
Bereit zum Sterben. Ein islamischer Terrorist.

© AFP

Kriegerischer Fanatismus: Zweifeln statt glauben - das müsste eine religiöse Tugend sein

Viele Kriege werden im Namen des Glaubens geführt. Seine Absolutheit ist es, die den Missbrauch erst möglich macht. Dabei müsste eigentlich der Zweifel als die gottgefälligste aller Tugenden verehrt werden. Ein Essay.

Die apokalyptischen Reiter Hunger, Krieg, Niedergang und Tod, die Albrecht Dürer mit seinem Kupferstich so eindrucksvoll dargestellt hat, sind der Inbegriff von Geißeln der Menschheit. Doch nur der Krieg verdient eine solche Bezeichnung. Der Hunger wird durch Fortschritte in der Landwirtschaft stetig zurückgedrängt und könnte durch gerechtere Verteilung der vorhandenen Nahrungsmittel schon jetzt besiegt werden; Krankheiten werden in zunehmendem Maße durch die moderne Medizin geheilt; und selbst der vierte Reiter, der Tod, erschreckt uns nur gefühlsmäßig, denn die Vernunft sagt uns, dass ohne ihn die Biosphäre längst an sich selbst erstickt wäre. Warum schaffen es die Menschen dann nicht, den Krieg ebenso entschieden wie Hunger und Krankheit zu bekämpfen?

Die vier apokalyptischen Reiterinnen

Der Grund ist, dass er von vier apokalyptischen Reiterinnen angestachelt wird, die weit mehr Unheil über die Menschheit gebracht haben als das (grammatikalisch) männliche Quartett. Sie heißen Rasse, Nation, Religion und Utopie. Alle vier haben miteinander gemein, dass sie von einem Glauben angetrieben werden, der gegen den Zweifel immun macht. Das Elend, das der Rassenwahn über die Menschheit gebracht hat, braucht man in Deutschland nicht näher zu beschreiben, da es sich hier tief in das nationale Gedächtnis als Schuld- und Schamgefühl eingebrannt hat. Dagegen hat das Wort Nation bei uns inzwischen wieder einen positiven Klang. Selbstverständlich ist nicht zu bestreiten, dass durch nationale Einheit überhaupt erst große Kollektivleistungen möglich wurden. Ebenso wenig lässt sich aber leugnen, dass unzählige Kriege im Namen der Nation geführt wurden. Auch heute noch lauert hinter „gesundem“ Nationalgefühl immer die apokalyptische Reiterin, die als Geißel den Glauben an die nationale Überlegenheit schwingt.

Die dritte Reiterin, die Religion, wird vom Zweifel am wenigsten gehemmt. Dabei hätte sie allen Grund dazu, beruft sie sich doch auf eine Autorität, von der sich nicht einmal die Existenz beweisen lässt. Wenn man im Alten Testament liest, wie die Israeliten bei verschiedensten Anlässen im Namen Gottes aufgefordert werden, die Frauen und Kinder ihrer Gegner zu töten, fragt man sich als ehemaliger Konfirmand, weshalb man aus dem Mund von Kirchenleuten dazu nie eine Erklärung, geschweige denn eine Entschuldigung gehört hat. Unser heutiges Christentum, bei dem das Zahlen der Kirchensteuer kaum noch von wirklichem Gottesglauben begleitet wird, ist „Gott sei dank“ zu einer milden, wenn auch weniger mild praktizierten Ethik der Nächstenliebe abgekühlt, so dass davon kaum noch Gewalttaten zu befürchten sind.

Kämpfer der Isis im Irak.
Kämpfer der Isis im Irak.

© dpa

Doch das, was radikale Islamisten tun, unterscheidet sich in keiner Weise von dem, was vor ein paar Jahrhunderten die Christen taten, als sie Hexen und Ketzer verbrannten, gegen Ungläubige und Abweichler in den eigenen Reihen Krieg führten und im Namen Gottes ganze Völker unterjochten. Das Beruhigendste am aufgeklärten Christentum ist, dass man es kaum noch als Religion bezeichnen kann. Es ist im Vergleich mit seinen früheren Ausprägungen eine leidlich tolerante Mischung aus Rationalität und Glaubensresten, wobei es einem Christen, wie den Vertretern jeder anderen Religion, schwerfallen dürfte zu erklären, wieso der eigene Glaube etwas prinzipiell Anderes sein soll als irgendein Aberglaube. Andererseits verdanken wir der Religion außer den Strömen von Blut, die in ihrem Namen vergossen wurden, großartige Kunstwerke, auf die selbst ihre Gegner ungern verzichten würden.

Der Weg zur Gewalttat ist mit Idealen gepflastert

Nicht weniger Blut wurde in neuerer Zeit im Namen utopischer Gesellschaftsentwürfe vergossen. Die Utopie einer besseren Welt gilt trotzdem auch heute noch als etwas Gutes. Solange sie nur der Orientierung dient, richtet sie keinen Schaden an und motiviert sogar zu gutem Handeln. Doch sobald Utopisten daran gehen, ihren Traum zu verwirklichen, ist Gewalt nicht fern. Im Grunde ist eine politische Utopie nichts anderes als eine säkulare Religion und damit der gleichen Gefahr wie diese ausgesetzt. Nicht alle utopischen Bewegungen führten zu so primitiver Barbarei wie die von Pol Pot, doch so gut wie alle glaubten das Recht zu haben, ihre Ideale auch mit Gewalt zu verwirklichen. Der Weg zur Gewalttat ist mit den Idealen gepflastert, die von ihren Propagandisten mit Füßen getreten wurden.

Die Religion ragt durch besondere Gefährlichkeit hervor

Bereit zum Sterben. Ein islamischer Terrorist.
Bereit zum Sterben. Ein islamischer Terrorist.

© AFP

Wie der Krieg unter den vier Reitern ragt die Religion unter den Reiterinnen durch besondere Gefährlichkeit hervor. Während der Rassenwahn wissenschaftlich widerlegt werden kann, die Nationen für die Unterwerfung unter das Völkerrecht zu gewinnen sind und die Utopie nach dem Scheitern des Kommunismus für lange Zeit diskreditiert ist, schwingt die Religion die Geißel des Glaubens mit unverminderter Heftigkeit und peitscht in der islamischen Welt eine ganze Kulturregion in den Krieg. Wer Kritik daran übt, schickt meist voraus, dass es sich dabei selbstverständlich nur um den Missbrauch einer im Kern guten Sache handelt. Doch dieser Kern ist ein Glaube, der den Missbrauch erst möglich macht.

Der Glaube wider alle Vernunft, den die christliche Theologie als höchste Tugend verklärt, ist in Wahrheit die größte Sünde wider den Geist. Er ist ein angemaßtes Pseudo-Wissen, das dem Glaubenden das unberechtigte Gefühl gibt, im Besitz absoluter Wahrheit zu sein. Nicht der Glaube, sondern der Zweifel sollte als gottgefälligste Tugend verehrt werden. Der Zweifel ist das Säurebad, dem wahre Erkenntnis standhalten muss. Darin unterscheidet sich rationale Wissenschaft von den Glaubenssystemen, von denen die vier apokalyptischen Reiterinnen geleitet werden. Ob man sich für den Angehörigen einer höherwertigen Rasse, für den Bürger einer auserwählten Nation, für den Empfänger einer göttlichen Offenbarung oder für den Vertreter einer besseren Gesellschaftsordnung hält, in allen diesen Fällen lässt man sich von einem Glauben leiten, der immun gegen den Zweifel ist.

Gerade der, der sich auf Gott beruft, sollte einsehen, dass nur das göttlicher Wille sein kann, was von allen Menschen für gut gehalten werden kann. Ein Gott, der sich nur wenigen Menschen offenbart, hat nichts Verehrungswürdiges an sich. Göttliche Offenbarung kann folglich nur das sein, was in allen Menschen in Erscheinung tritt, und das ist nun einmal das lumen naturale, das natürliche Licht, wie die Philosophen die Vernunft nennen. Wenn in allen Köpfen die gleiche Mathematik für wahr gehalten wird, muss es in den Menschen ein Organ geben, das allgemeingültige Wahrheiten anerkennt. Das sind die Wahrheiten, die dem Säurebad des Zweifels standhalten. Nicht das Essen vom Baum der Erkenntnis ist die Erbsünde, sondern das Verweigern dieser Frucht durch ein Verbot des Zweifels. Die Aufklärung hat uns das Ethos des Zweifelns gelehrt.

Die Amerikaner - ein Volk von Glaubenden

Allerdings nicht überall mit gleicher Entschiedenheit. Voltaire und David Hume sind seine großen Repräsentanten. Bezeichnenderweise sind die Völker der beiden unterm Banner der Aufklärung geblieben. Deutschland, wo Kant einst die Aufklärung als „Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit“ definierte, ist danach für längere Zeit von der Fahne gewichen, mit verheerenden Folgen, während die USA, die ihre Verfassung im Geist der europäischen Aufklärung schrieben, sich noch heute für ihrem legitimiertesten Bannerträger halten. So gab der Historiker Henry Steele Commager einem Buch den Titel: „Das Reich der Vernunft: Wie Europa die Aufklärung erdachte und Amerika sie verwirklichte“ (1978).

Doch das charakteristischste Element der Aufklärung, der Zweifel, fehlt im Haushalt der amerikanischen Seele in auffälliger Weise. Amerikaner sind ein Volk von Glaubenden. In keinem westlichen Land bekommt man Glaubensbekenntnisse so häufig zu hören wie bei ihnen. Zweifler sind in ihren Augen Schwächlinge. Im Kampf gegen das Böse fordern sie klare Positionen, wobei sie, wenn legale Mittel nicht ausreichen, auch illegale für erlaubt halten. Ihre älteste Prägung, die auf den Puritanismus zurückgeht, lässt sie noch heute im Erfolg ein Gottesurteil und einen Erwähltheitsbeweis sehen. Deshalb werden sie, solange sie die erfolgreichste Nation der Erde sind, an dem Glauben festhalten, einen besonderen Auftrag zu haben. Manifest destiny ist die dafür geprägte Formel. Mag dies inhaltlich auch kein religiöses Credo sein, wird es doch wie ein solches praktiziert. Amerikanische Politologen nennen es deshalb „Zivilreligion“.

Positiv von der Aufklärung sprechen, statt nur die Fehler zu sehen

Bereit zum Sterben. Ein islamischer Terrorist.
Bereit zum Sterben. Ein islamischer Terrorist.

© AFP

Eine Religion, die nicht den Glauben, sondern den Zweifel zur höchsten Tugend erklärt, wäre in der Tat die Erfüllung einer schönen Utopie, und noch dazu der einzigen, von der nichts zu befürchten ist. Leider ist sie ebenso illusorisch wie die Utopie eines Wirtschaftssystems, das den ökologischen Kollaps durch Konsumeinschränkung zu verhindern suchte. Vermutlich hat uns die Evolution so konditioniert, dass wir im ständigen Wettbewerb immer die Nase vorn haben wollen. Wenn wir schon selber nicht die Größten sind, wollen wir wenigstens der besten Rasse, der stärksten Nation, der einzig wahren Religion oder dem einzig richtigen Gesellschaftssystem angehören. Glauben darf man aber nur an ein Wissen, das unter dem Vorbehalt der jederzeit möglichen Falsifizierbarkeit steht.

Das bedeutet nicht Resignation, sondern im Gegenteil das Voranschreiten zu immer besser gesichertem Wissen. An diesem Voranschreiten wurde und wird der menschliche Geist vor allem durch die Religion behindert. Noch gefährlicher sind allerdings Wissenschaftler, die das Säurebad des Zweifels umgehen und ihre Erkenntnisse als absolute Wahrheit deklarieren. Sie geben das Schwert des Geistes aus der Hand und öffnen dem Ungeist das Tor. Geist ist vielleicht ein zu hochtrabendes Wort. Warum sprechen wir nicht angesichts der zunehmenden Verdunkelung durch die Fundamentalismen jeglicher Couleur wieder positiv von Aufklärung, statt dieser großen Emanzipationsbewegung ihre eigene Fehlentwicklung anzukreiden, wie das Adorno und Horkheimer zum Beispiel in der „Dialektik der Aufklärung“ taten? Unsere ökologischen Probleme mögen allesamt durch das aufklärerische Fortschrittsdenken verursacht worden sein, und selbst Rassismus, Nationalismus und der so genannte „wissenschaftliche“ Sozialismus haben Argumente aufgeklärter Wissenschaft zur Unterstützung ihrer totalitären Weltsicht missbraucht.

Den Ungläubigen nicht mit der ewigen Verdammnis drohen

Aber das war nicht Schuld der Wissenschaft, sondern der Wissenschaftler, die gegen das Gebot des ständigen Zweifels verstoßen haben. Wer sich an dieses Gebot hält, wer also ein wahrhafter Wissenschaftler ist, der sollte außerstande sein, sich einem Glauben wider alle Vernunft zu unterwerfen. Fühlt er sich dennoch abhängig von einer religiösen Macht und „glaubt“ an sie, darf er nicht die Wahrheit seines Glaubens behaupten, sondern nur zweifelnd hoffen, dass er auf dem richtigen Weg ist; und er darf andere nicht bekehren wollen, sondern nur versuchen sie dazu zu bringen, ihre Wege mit seinem zu vergleichen. Braucht einer die Religion, um den Tod nicht fürchten zu müssen, darf er sich mit der Hoffnung auf das ewige Leben nur dann trösten, wenn er den Ungläubigen nicht mit der ewigen Verdammnis droht. Angesichts der barbarischen Exzesse, zu denen religiöser Glaube aktuell führt, ist es unbegreiflich, dass die christlichen Kirchen immer nur mit beschwichtigender Toleranz an die Andersgläubigen appellieren statt zu erkennen, dass die Wurzel des Übels in dem liegt, was sie mit ihnen gemein haben, im Glauben wider alle Vernunft.

Hans-Dieter Gelfert

Zur Startseite