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Politik: Kriegsverbrechertribunal in Den Haag: "Ich lebe für den Tag, an dem ich mich rächen kann"

Wie ein Kind bei einem Puzzle legt Nancy Fichter die Knochen auf den Tisch, bis sie einen männlichen Jugendlichen ergeben. Da es keine besonderen Kennzeichen gibt, packt sie die Knochen wieder in den Sack.

Wie ein Kind bei einem Puzzle legt Nancy Fichter die Knochen auf den Tisch, bis sie einen männlichen Jugendlichen ergeben. Da es keine besonderen Kennzeichen gibt, packt sie die Knochen wieder in den Sack. Noch rund 4150 solcher Puzzles warten auf sie. Es sind die Überreste der von den Serben in Srebrenica erschossenen Moslems. Es ist das bekannteste, beileibe aber nicht einzige Massaker des Kriegs in Bosnien, der vor fünf Jahren mit dem Friedensschluss von Dayton im US-Staat Ohio zu Ende ging. Der Friede, der seitdem herrscht, ist vor allem für viele Moslems keiner. Denn viele serbische Kriegsverbrecher sind noch immer frei.

Mit dem Abkommen vom 21. November 1995 schwiegen zunächst einmal nach dreieinhalb Jahren Krieg die Waffen. Eine vor allem von den Nato-Staaten gestellte Friedenstruppe sorgt für Ruhe und Ordnung und versucht, vom Kriegsverbrechertribunal für das ehemalige Jugoslawien in Den Haag Gesuchte festzunehmen. Als bislang Ranghöchster steht jetzt der serbische General Radislav Krstic vor Gericht, der für das Massaker von Srebrenica verantwortlich gewesen sein soll. Die beiden Anführer der Serben, Radovan Karadzic und General Ratko Mladic, sind aber weiter frei. Eine unabhängige Menschenrechtsgruppe listete die Namen von 75 bosnischen Serben auf, die mit Kriegsverbrechen in Zusammenhang gebracht werden und derzeit noch offizielle Ämter innehaben. Auf einer Konferenz in Dayton anlässlich des fünften Jahrestags des Abkommens sprachen sich Diplomaten und Politiker für die weitere Stationierung der Friedenstruppen in der Region aus. Außerdem forderten sie die sofortige Festnahme Karadzics und Mladics und die Auslieferung des ehemaligen jugoslawischen Staatspräsidenten Slobodan Milosevic an das Tribunal in Den Haag.

Bislang herrscht vor allem bei vielen Moslems nur Bitterkeit. Von den 200 000 Todesopfern, die der Krieg forderte, waren die meisten Moslems. Die Trauer um die Toten wurde aber vielfach verdrängt von der Sorge ums Überleben. Denn ein gutes Auskommen haben die wenigsten. Bosnien steckt trotz aller internationalen Bemühungen weiter in einer tiefen Wirtschaftskrise. Viele Menschen sind arbeitslos, auch das Dach über dem Kopf ist keineswegs sicher.

Zineta Fazlic erinnert sich noch daran, wie 15 serbische Nachbarn sie vergewaltigten und bewusstlos schlugen, während ihr damals sechsjähriger Sohn zusah. Verglichen mit dem Schicksal ihres Mannes, der acht Monate in einem serbischen Lager gefoltert wurde, sei das aber nichts, sagt sie. Die Vergewaltiger leben nur ein paar Kilometer entfernt im serbischen Gebiet von Bosnien, erzählt ihr Mann, Mehmedalija Fazlic, der an Rache denkt. "Ich lebe für den Tag, an dem ich ihnen mehr wehtun kann, als sie mir wehgetan haben", sagt er. "Es ist mir egal, wenn ich dafür hundert Jahre ins Gefängnis müsste." In Orten wie Kljuc, wo viele nicht wissen, wie sie am nächsten Tag leben sollen, teilen fast alle Menschen die Ansicht Fazlics. Sie wollen, dass die Serben für ihre Taten bezahlen. Das aber scheint ungewiss. Die Fazlics zum Beispiel wohnen jetzt in einem Haus, das früher einem Serben gehörte. Dieser fordert inzwischen sein Eigentum zurück.

Mort Rosenblum

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