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Politik: Krimi auf Taiwan

Zehntausende protestieren: Sie halten das Attentat für Betrug

Der Mann hat den Ärger einfach aufgemalt, auf seinen Bauch. Mit nacktem Oberkörper steht er zwischen den Zehntausenden, die seit dem Wochenende vor dem Präsidentenpalast in Taipeh demonstrieren. Eine lange rötliche Wunde hat er sich auf den Bauch gezeichnet, darüber das Schriftzeichen „pian" – „Betrug". Er drückt damit aus, was die meisten hier denken. Das missglückte Attentat auf Präsident Chen Shui-bian, ausgerechnet am Tag vor der Präsidentenwahl, halten sie für eine Inszenierung. „Der Anschlag wurde von dem Präsidenten selbst geplant", sagt die Demonstrantin Liu Xin-ming.

Es sind Anhänger der einst mächtigen Partei der Nationalchinesen (KMT), die knapp fünf Jahrzehnte die Insel beherrschte, die seit der Wahlnacht ihren Ärger freien Lauf lassen. „A-Bian tritt zurück", rufen sie in Sprechchören und verwenden dabei den Spitznamen von Chen, den seit vier Jahren amtierenden Präsidenten und Chef der Demokratischen Fortschrittspartei (DPP). Ein ohrenbetäubender Lärm von Trillerpfeifen und Hupen schallt durch die Innenstadt. Am Abend kommt es zu schwere Ausschreitungen. Hunderte Polizisten, dazu Dutzende Wasserwerfer, haben um den mit Stacheldraht befestigten Präsidentenpalast Stellung bezogen.

Selbst für Taiwans junge Demokratie, bei der grelle Show-Einlagen und Verleumdungskampagnen den Wahlkampf begleiten, waren die vergangenen drei Tage wie ein Krimi. Erst das Attentat in Chens Heimatstadt Tainan, ein Tag vor der Wahl. Im Lärm des Feuerwerks hatte erst niemand die Schüsse bemerkt. Videoaufnahmen zeigen einen Präsidenten, der weiter den Menschen zuwinkt, während die Vizepräsidentin sich an das verletzte Knie greift und Blut entdeckt. Beide Politiker sind nur leicht verletzt, und können kurz darauf das Krankenhaus wieder verlassen.

Das Land hatte sich von dem Schock noch nicht erholt, als am Samstag das Wahldrama folgte. Mit weniger als 30 000 Stimmen – gerade 0,2 Prozent der 12,9 Millionen abgegebenen Stimmen – besiegte Chen, der vor dem Attentat nach Meinung vieler zurückgelegen hatte, den Herausforderer Lien. Knapper kann eine Wahl kaum ausgehen. Vermutlich wird es Wochen dauern, bis die Gerichte entschieden haben, ob und in welchen Wahlbezirken die Stimmen neu gezählt werden. Und während die eine Hälfte des Landes trauert, freut sich die andere.

Harald Maass[Peking]

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