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Eine pro-russische Demonstrantin in Odessa.

© laif

Krise in der Ukraine: Angst vor Krieg in Odessa

Die Medien raten den Bewohnern schon, Notvorräte für den Krieg anzulegen. Im ukrainischen Odessa wachsen die Spannungen. Prorussische und prowestliche Demonstranten stehen sich unversöhnlich gegenüber. Und viele rechnen mit dem Schlimmsten.

Andrei hat sich schon alles im Kopf zurechtgelegt. „Wenn der Krieg kommt“, sagt er, „ist das Wichtigste eingekauft.“ Trinkwasser, Babynahrung, Medikamente und Grundnahrungsmittel. Noch hat der IT-Spezialist aus Odessa, der schönen Stadt am Schwarzen Meer, nicht damit begonnen. Denn Odessa, das ist nicht die Krim.

Doch seit der prorussische Separatistenführer von Odessa, Antoni Dawidtschenko, vor ein paar Tagen festgenommen und nach Kiew überstellt wurde und seine Anhänger einen Sturm auf die städtische Zentrale des ukrainischen Geheimdiensts versuchten, ist die Stimmung angespannt. Die täglichen Berichte aus der Krim führen ihnen auch 150 Kilometer entfernt die Machtlosigkeit des ukrainischen Staates vor Augen. Gestern hat die Ukraine den Rückzug ihrer Truppen von der Krim angeordnet. Zuvor waren russische Einheiten gewaltsam auf den Marinestützpunkt Feodosia vorgerückt, einen der letzten Militärposten der Ukraine auf der Krim.

Andrei wartet ab, schaut fern, liest im Internet. „Wir alle haben Angst, aber man sieht es uns nicht an, wir leben den Alltag“, sagt Andrei. Und seine Frau fügt hinzu, sie traue sich nicht einmal mehr, im eigenen Land die ukrainische Flagge aus dem Fenster zu hängen. Dann würden Pflastersteine ins Kinderzimmer fliegen, die Mehrheit hier in Odessa sei eben prorussisch.

Die Ereignisse der vergangenen Wochen haben sie verändert, sagt Andreis Frau: Erst nach der Krim-Annexion wisse sie bestimmt, dass sie Ukrainerin sei. „Wenn es ganz schlimm kommt, gehe ich zum Polizeiposten und bitte um eine Waffe, damit ich meine Familie verteidigen kann“, sagt Andrei. Er wird still, ernst.

An einem Kaffeestand bei der Potemkin-Treppe, 192 Stufen über dem Hafen, versuchen es zwei Frauen mit Galgenhumor. Da nun die Krim weg sei, würden diesen Sommer eben mehr Touristen an diesen Teil des Schwarzen Meeres kommen. Aber auch sie können ihre Sorgen nur schwer verbergen. Angst geht um. Die ukrainische Tageszeitung „Segodnia“ berichtet in ihrer lokalen Odessa-Ausgabe von einem Psychologenteam, das den Bewohnern der ukrainischen Millionenstadt beistehe. In den Medien werden Anleitungen verbreitet, welche Notvorräte man für den Krieg anlegen solle.

Von Beginn an ein geostrategisches Projekt Russlands

Auf den ersten Blick ist von solchen Ängsten in der Stadt wenig zu sehen. Fröhliche Teenager skaten auf der Meerpromenade, die Jeunesse Dorée feiert sich jeden Abend in den Clubs, Matrosen aus Rumänien und Georgien kaufen in den Geschäften am Hafen ein und lächeln den lokalen Schönheiten zu.

„Russland wird große Probleme mit China kriegen“, beschwört bei der allabendlichen Demonstration der europafreundlichen Ukrainer ein Redner die rund 200 Zuhörer. Ein tragbarer Generator liefert den Strom fürs Mikrofon; neben einem alten weißen Lada sammelt eine Frau Spendengelder für die ukrainische Armee. Kaum hat der Redner begonnen, schwärmen vier Zehnergruppen, junge Leute in Tarnanzügen, aus und bewachen sämtliche Zufahrtswege. „Habt keine Angst!“, macht später ein Sowjetveteran der Menge Mut. Wenn es gelungen sei, damals die Nazis zu besiegen, dann werde das diesmal den Ukrainern auch im Kampf gegen Russland gelingen. Bis zu 15 000 proeuropäische Demonstranten seien es jeweils am Wochenende, erzählt einer von ihnen, die prorussischen brächten es dagegen höchstens auf 5000.

„Krieg gibt es hier keinen“, sagt Gennadi, der lange Jahre bei der Sowjetarmee gedient hat und nun seine Rente mit Autofahrten durch die Stadt aufbessert. Die Ukraine habe ja gar keine richtige Armee, sagt er, und ohne Armee gebe es auch keinen Krieg. „Für die paar Panzer, die sie haben, fehlt ihnen das Benzin“, höhnt er. Überhaupt sei Odessa schon immer russisch gewesen. „Stalin machte sie ukrainisch, genauso wie Chruschtschow die Krim später den Ukrainern schenkte.“ So, wie sich die Krim für den Anschluss an Russland entschieden habe, könne es nun auch Odessa tun, meint er.

Die von Katharina der Großen im späten 18. Jahrhundert gegründete Stadt war von Beginn an ein geostrategisches Projekt Russlands. Der osmanische Einfluss sollte nach dem Russisch-Türkischen Krieg dauerhaft eingedämmt werden, und die Zarin schickte tüchtige Gouverneure in das Gebiet. Die orientierten sich an europäischen Vorbildern, um eine moderne Stadt aufzubauen. Deutsche, Polen, Griechen und Russen zog es dahin. 100 Jahre später war Odessa zur Heimat von über 400 000 Menschen geworden, mit bis zu 44 Prozent jüdischer Bevölkerung. Christen, Orthodoxe und Juden lebten nicht wie in vielen anderen Großstädten jener Zeit auf unterschiedliche Stadtviertel verteilt. Sondern um einzelne Gotteshäuser hatten sich kleine Gemeinden gebildet, die in der kulturellen Durchmischung aufgingen. „Das Problem“, sagt eine Stadtführerin, „sind immer erst die Betonungen.“

Trotz aller Feindseligkeiten gibt es auch versöhnliche Zeichen

Die kleine gedrungene Frau sagt das mit einem bedauernden Ton. Es sei Odessas Los, erklärt sie, dass die Vielfalt an Ethnien, Konfessionen, Traditionen, die als Ganzes prächtig funktioniert und der Stadt großen Wohlstand gebracht habe, immer wieder bedroht würde, weil jemand die Details zu sehr betont.

Es sind auch jetzt wieder nur Details, die Odessas Russlandfreunde den Stadtpark Kulikowo-Feld beim Bahnhof für ihre Demonstration auswählen lassen. Sie treffen sich ebenfalls täglich um 18 Uhr. Die als Hauptorganisatorin auftretende „Narodnaja Druschyna“, was zu Deutsch Volksverein bedeutet, hat dort vor Monatsfrist so etwas wie eine Kopie des Kiewer Maidan im Kleinformat hingestellt. Ein Zeltlager, eine Bühne und eine Großbildleinwand, auf der gerade der aus dem ukrainischen Kabelnetz verbannte russische Propagandasender Rossija 24 per Satellit gezeigt wird.

Sergej Marchel will im Gespräch nichts von Separatismus wissen. Wenn bei einer Demo ein paar „Russland! Russland!“ schreien würden, wettert der Mittfünfziger mit der roten Windjacke, dann sei das eben Meinungsfreiheit. Ziel der Demonstranten sei nur, mehr Eigenständigkeit für die Südostukraine zu erhalten. Die Vermutung, das Zeltlager werde von Russland finanziell unterstützt, weist er empört von sich. Und natürlich sieht er mehr Demonstranten auf seiner Seite als bei den Proeuropäern. „Am vergangenen Sonntag waren es 25 000, aber die ukrainische Presse zählte nur 5000“, schimpft er.

Kleine Schritte sollen die Bewohner wieder zusammenbringen

Trotz aller Feindseligkeiten gibt es auch versöhnliche Zeichen. Kürzlich hatten beide Protestgruppen zu einer Stadtparksäuberungsaktion aufgerufen. „Wir wollen ihnen zeigen, dass wir keine Faschisten sind“, erzählt Julia Balatskaja, eine proeuropäische Aktivistin. Kleine Schritte sollen die Bewohner von Odessa wieder zusammenbringen, sagt die junge Geschäftsfrau. Sie hat sich dem sogenannten „Automaidan“ angeschlossen, einer motorisierten Gruppe von Proeuropäern. Am Samstag fährt der „Automaidan“ hupend drei Stunden lang durch die Stadt und propagiert einen Boykott der Lukoil-Tankstellen. Ein gutes Dutzend Autos mit ukrainischen Flaggen fährt bei den russischen Benzinstationen vor, die Aktivisten springen aus den Autos und kleben Zettel auf die Tanksäulen. „Kauf nicht beim Okkupanten!“, steht auf den Klebern, die Putin mit Hitlerbart zeigen. Ehe das Personal die Polizei rufen kann, rast der „Automaidan“ bereits weiter – zur nächsten Lukoil-Tankstelle. „Dummköpfe! Hier droht der Krieg, und ihr klebt meine Tankstelle voll!“, schimpft ein junger Angestellter. „Dann gebt mir doch eine andere Arbeit“, ruft er noch.

Sie verstehe diese Wut, sagt Julia Balatskaja später, denn die Arbeitslosigkeit in Odessa sei groß, seit Beginn der Proteste in Kiew Ende 2013 stehe alles still. „Keiner traut sich zu investieren“, berichtet sie. Statt der „ohnehin nur symbolischen EU-Sanktionen gegen Russland“ möchte sie europäische Kredite für die Ukraine. „Dazu brauchen wir einen Rechtsstaat und Anti-Korruptionsmaßnahmen, diese Hilfe wollen wir von der EU“, sagt sie. „Und Lukoil boykottieren wir nur, weil wir Putin nicht noch zusätzlich unterstützen wollen.“

Aleksandr Ostanenko sagt, er könnte viele Forderungen des prorussischen Zeltlagers auf dem „Kulikowo-Feld“ unterschreiben. Das Problem sei indes, dass diese größtenteils einfach sowjet-nostalgischen Demonstranten in einer Kriegssituation Putin unterstützten. Der neue Vizegouverneur von Odessa empfängt in einem kalten und kahlen Büro an seinem zweiten Amtstag. Im Gebäude der Gebietsverwaltung ist die angespannte Stimmung mit Händen zu greifen. Die große Mehrheit des Lokalparlaments gehört der Partei des abgesetzten Staatspräsidenten Viktor Janukowitsch an. Prorussische Parteien halten weitere zehn Prozent, genauso viel wie die kleine lokale Fraktion des Übergangspremiers Arseni Jazenjuk. „Aber unser Parlament hat sich klar zur Souveränität der Ukraine bekannt“, sagt Ostanenko, „die Krim-Krise schweißt uns alle zusammen.“

Bis vor ein paar Tagen seien Busse voller russischer Provokateure aus dem nahen prorussischen Separatistengebiet Transnistrien die 100 Kilometer nach Odessa gefahren, dem habe der Grenzschutz nun einen Riegel vorgeschoben.

Am vergangenen Samstag gab es neues Erschrecken in der Stadt. Die Polizei hob in Odessa ein Waffenlager aus und nahm russische Staatsbürger fest. Die Kunde verbreitete sich wie ein Lauffeuer. „Angst beherrscht die Stadt“, sagte der neue Gouverneur im ukrainischen Staatsfernsehen. Es klang verzweifelt.

Dieser Text erschien auf der Dritten Seite.

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