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Der Fraktionschef der Sozialdemokraten im EU-Parlament, Gianni Pittella.

© dpa

Krise von Europas Sozialdemokraten: Gianni Pittella: "Wir schwanken hin und her"

Der Chef der sozialdemokratischen Fraktion im EU-Parlament, Gianni Pittella, spricht im Interview über die Krise seiner Parteienfamilie, große Koalitionen und den Populismus in Europa.

Herr Pittella, im Jahr 1998 waren in den meisten europäischen Regierungszentralen noch Sozialdemokraten am Drücker. Werden Sie manchmal nostalgisch, wenn Sie an diese Zeit zurückdenken?

Überhaupt nicht. Die 90er Jahre waren geprägt vom Triumph des sogenannten Dritten Weges, der das Verdienst hat, die Linke mit dem Markt versöhnt zu haben. Das hat sich letztendlich jedoch als historischer Fehler erwiesen, weil die Globalisierung bedingungslos angenommen wurde, ohne zu erkennen, dass diese sowohl Gewinner als auch Verlierer schaffen würde. Zu viele Linke haben sich auf die Gewinner konzentriert, dabei aber die Verlierer – vor allem die unteren Bevölkerungsschichten und die Arbeiterklasse – vergessen, die de facto den Populisten überlassen wurden.

Heute ist es die Ausnahme, wenn Sozialdemokraten in einem EU-Land regieren. Wie erklären Sie sich den Niedergang?

Erstens werden wir nach Jahrzehnten der Machtausübung immer mehr als eine abgehobene Elite, um nicht zu sagen eine politische Oligarchie, wahrgenommen. Der zweite Grund ist unsere manchmal naive Vision der Globalisierung. Drittens haben wir uns als Sozialdemokraten von bestimmten Mustern und Ritualen der Vergangenheit noch nicht befreit. Heutzutage wird unsere Gesellschaft von Fragen im Zusammenhang mit Kultur und Identität geprägt. Einwanderung, Islam, Grenzkontrollen – das sind die Herausforderungen der Zukunft. Die Populisten bieten zweifellos die falschen Antworten auf diese Fragen.

Und die Sozialdemokraten?
Wir zögern, schwanken hin und her zwischen den Klischeevorstellungen der Vergangenheit und richtigen Intuitionen. Für die Linke der Zukunft ist der wirkliche Kampf mehr kultureller als wirtschaftlicher Art. Wir müssen der geschlossenen Gesellschaft der Rechten eine offene Gesellschaft, eine Gesellschaft der Möglichkeiten entgegensetzen. Ja, Islam und Demokratie sind vereinbar. Nein, eine Rückkehr der Grenzkontrollen wäre die Verneinung von Europa. Ja, Einwanderung ist eine Ressource – unter der Voraussetzung, dass sie gesteuert wird.

Sie kommen aus Italien. Dort ist die Anti-Establishment-Bewegung „Fünf Sterne“ gegenwärtig in den Umfragen erfolgreicher als Ihre sozialdemokratische Partito Democratico (PD). Wird Griechenland, wo vor eineinhalb Jahren die linksgerichtete Syriza die Regierungsgeschäfte übernahm, zum Modell für Italien?

Dieser Analyse stimme ich nicht zu. Die PD ist die progressive Partei in Europa, die bei den letzten Europawahlen am meisten gewonnen hat. Sie hat sogar mehr Stimmen erhalten als Merkels CDU. Und zwar deshalb, weil wir vielleicht vor allen anderen begriffen haben, dass das 20. Jahrhundert vorbei ist. Wir haben unsere Partei von Grund auf erneuert und ehemals weit auseinander liegende politische Kulturen wie den Katholizismus und den Sozialismus zusammengebracht. Wir haben die alte Parteibürokratie gestrafft, die oft ein Hindernis für Veränderung ist. In nur zwei Jahren haben wir den Bürgerinnen und Bürgern bewiesen, dass mutige Reformen machbar sind, sogar solche, die Verfassungsänderungen bedeuten. Und schließlich war es auch ein entscheidender Faktor, eine starke Führungspersönlichkeit zu haben, nämlich Renzi. Die Linke der Zukunft muss sich mit der Idee anfreunden, starke Führungspersönlichkeiten zu haben.

Was Pittella über den britischen Labour-Chef Corbyn denkt

Der britische Labour-Chef Jeremy Corbyn.
Der britische Labour-Chef Jeremy Corbyn.

© REUTERS

Warum haben Parteien in der Mitte immer mehr Probleme, mit ihren pro-europäischen Botschaften durchzudringen?

In Europa besteht heutzutage die Gefahr, dass die Unterschiede zwischen links und rechts verwischt und ersetzt werden durch einen Gegensatz zwischen den traditionell pro-europäischen Kräften, die mit einer konservativen Sichtweise gleichgesetzt werden, und den Populisten, die alles rückgängig machen wollen. Wenn wir Europa retten wollen, müssen wir einsehen, dass diese europäische Vision des „Mittelwegs“, die die Unterschiede zwischen links und rechts ignoriert, gescheitert ist. Es gibt keine einheitliche Vision von Europa.

Und welche Vision vertreten Sie?

Wir Linke sind für eine große Verfassungsreform für Europa, die die Belastung der Mitgliedsstaaten verringern und den EU-Institutionen mehr Macht geben soll. Wir Linke unterstützen ein Europa, das gegen Steuerhinterziehung durchgreift. Keine Panama Papers mehr! Wir Linke sind dafür, Griechenland im Gegenzug für Reformen zu helfen. Wir sind für eine ehrgeizige Reform der Richtlinie zur Entsendung von Arbeitnehmern, die den Grundsatz „gleicher Lohn für gleiche Arbeit“ verankert. Wir fordern eine Digitale Agenda, die allen Vorteile bringt. Und wir sind gegen TTIP, bis wir alle geforderten Garantien erhalten. Kann die Rechte, selbst die pro-europäische, das Gleiche sagen?

Auch die Sozialdemokraten in Deutschland und Österreich werden vom Niedergang nicht verschont. Österreichs Kanzler Faymann musste zurücktreten, und in Deutschland sackt die SPD in den Umfragen ab. Was halten Sie von Großen Koalitionen, wie es sie in Deutschland und Österreich gibt?

Große Koalitionen können die Ausnahme sein, sie dürfen nicht zur Regel werden. Ansonsten würden links und rechts jeglichen Sinn verlieren. Es wäre ein Fehler, zu denken, dass Linke und Rechte angesichts der Erfolge der antieuropäischen Kräfte strukturelle Bündnisse eingehen müssen. Populismus gedeiht dann am besten, wenn die Leute das Gefühl bekommen, dass alle Politiker gleich sind. Die großen Koalitionen in Deutschland und in Österreich waren arithmetisch notwendig, aber der Wechsel muss das Ziel bleiben. In gewisser Weise sind diese Länder ein Spiegelbild der Lage, die sich im Europäischen Parlament ergeben hat, wo wir Sozialdemokraten und Sozialisten mit der Europäischen Volkspartei zusammenarbeiten müssen, weil es keine anderen Mehrheiten gibt.

Nach der Ansicht einiger Beobachter sollten Europas Sozialdemokraten sich am britischen Labour-Chef Jeremy Corbyn ein Beispiel nehmen und nach links rücken. Was halten Sie davon?

Corbyn schafft es, eine Antwort auf die große Frage zu bieten, wie wir unsere Parteien erneuern sollten. Dank ihm wenden sich Tausende junge Menschen wieder der Labour-Partei zu. Ich bin aber immer noch überzeugt, dass es falsch ist, an allen Rezepten der Vergangenheit festzuhalten, wenn es um die Wirtschaft geht. Die Ideen des Wohlfahrtsstaates zum Beispiel ist gut, aber andere sollten überdacht werden. Heutzutage brauchen wir nicht mehr Staat, sondern einen anderen Staat, der in technologische Innovation und Forschung investiert, weil das die einzige Möglichkeit ist, Wachstum zu fördern. Gleichzeitig müssen wir jene beschützen, die durch diese Veränderungen ausgeschlossen werden.

Unsere Fraktion hat gekämpft, um sicherzustellen, dass der europäische Investitionsplan den Schwerpunkt auf innovative Industriebranchen legt, die das Wachstum der grünen Wirtschaft unterstützen. Das reicht aber nicht: Wir fordern einen noch ehrgeizigeren EU-Investitionsplan. Gleichzeitig sind wir dagegen, dass China den Marktwirtschaftsstatus erhält, weil wir die europäischen Arbeitnehmer beschützen wollen, deren Jobs durch chinesische Dumpingpraktiken gefährdet sind. Die Linke der Zukunft muss Veränderung und Schutz kombinieren.

Am 23. Juni entscheiden die Briten über ihre Mitgliedschaft in der EU. Was passiert, wenn es zum Brexit kommt?

Verwirrung und Chaos. Das wäre der Anfang einer Phase der Unsicherheit, nicht nur für das Vereinigte Königreich, sondern auch für Europa. Die Verhandlungen würden viele Jahre dauern und unsere Volkswirtschaften schwächen. Und wie üblich müssten die unteren und mittleren Gesellschaftsschichten den höchsten Preis zahlen.

Im Fall des österreichischen Ex-Kanzlers Faymann ist es die Flüchtlingskrise, die einem Sozialdemokraten das Amt gekostet hat. Wie soll Europa in der Flüchtlingskrise reagieren?

Der Fall Österreichs zeigt, wie mangels einer radikalen und wirksamen europäischen Lösung einzelne Mitgliedsstaaten nicht nur nicht mehr zurechtkommen, sondern auch Gefahr laufen, in die Hände extremistischer Kräfte zu fallen. Es ist beschämend, dass selbst, nachdem Tausende Menschen auf der Flucht vor Krieg und Gewalt ums Leben gekommen sind, die Europäische Union nicht fähig ist, sich zu reformieren und auf diese Ereignisse konkret zu reagieren.

Die Kommission hat mehrere konkrete Vorschläge vorgelegt, die aufgrund des Egoismus und der Kurzsichtigkeit zu vieler nationaler Regierungen nicht angenommen wurden. Solidarität muss obligatorisch sein, ansonsten ist es Wohltätigkeit. Die Mitgliedsstaaten müssen endlich mit der Umsiedlung der Flüchtlinge beginnen, ansonsten werden sie Sanktionen in Kauf nehmen müssen. Danach müssen wir in Afrika tätig werden. Deshalb geht der von der italienischen Regierung vorgeschlagene Migrationspakt in die richtige Richtung, weil er darauf abzielt, langfristig die Ursachen der Migrationsströme zu beseitigen.

Das Gespräch führte Albrecht Meier.

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