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Regierungsgegner auf dem Maidan. Den Wasserwerfer der Polizei haben sie gekapert.

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Update

Krise in der Ukraine: Parlamentschef Rybak zurückgetreten

Die politische Krise in der Ukraine ist noch nicht vorüber: Parlamentschef Wladimir Rybak hat seinen Rücktritt erklärt. Die Regierungsgegner kontrollierten nach eigenen Angaben die ukrainische Hauptstadt. Und Janukowitsch selbst ist offenbar in der ostukrainische Stadt Charkow.

Der ukrainische Parlamentschef Wladimir Rybak hat seinen Rücktritt erklärt. Das gab sein Stellvertreter Ruslan Koschulinski am Samstag in der Obersten Rada in Kiew bekannt. Rybak, ein Vertrauter von Präsident Viktor Janukowitsch gab gesundheitliche Gründe für den Schritt an.

Unterdessen haben die Gegner des ukrainischen Präsidenten Viktor Janukowitsch nach eigenen Angaben die Macht in der Hauptstadt Kiew ergriffen. Die sogenannten Selbstverteidigungskräfte hätten die Kontrolle über das Parlament, den Regierungssitz und die Präsidialkanzlei übernommen, sagte Andrej Parubij, der Kommandant des Protestlagers, am Samstagmorgen auf dem Unabhängigkeitsplatz (Maidan). Das berichtet die Zeitung „Segodjna“ auf ihrer Internetseite.

Tausende Menschen harrten in der Nacht auf dem Maidan aus. Sie kritisieren, ein vorläufiges Abkommen zwischen Janukowitsch und der parlamentarischen Opposition sei nicht ausreichend. Darin hatten die Konfliktparteien unter EU-Vermittlung vorgezogene Präsidentenwahlen, eine Übergangsregierung und eine neue Verfassung vereinbart. In den vergangenen Tagen waren bei Zusammenstößen zwischen Regierungsgegnern und der Polizei in Kiew mindestens 77 Menschen getötet worden.

„Jetzt kontrolliert der Maidan ganz Kiew“, behauptete Parubij, der Abgeordneter der Vaterlandspartei der inhaftierten Ex-Regierungschefin Julia Timoschenko ist. Zudem sagte er:„Wir fordern den sofortigen Rücktritt des Präsidenten“. Die Selbstverteidigungskräfte patrouillierten im Regierungsviertel. „Wir haben den Polizisten gesagt, dass sie zum Maidan überlaufen können und wir sind zu gemeinsamen Patrouillen bereit“, erklärte Parubij.

Janukowitsch in Charkow

Der ukrainische Präsident Viktor Janukowitsch hatte nach Angaben eines ranghohen US-Diplomaten am Freitag die Hauptstadt Kiew verlassen und ist ins östliche Charkow gereist. In der Region, einer Hochburg des Staatschefs, finde ein politisches „Treffen“ statt, sagte der Diplomat in Washington. Er bezeichnete es als „nicht ungewöhnlich“, nach einer wichtigen politischen Entscheidung den Osten zu besuchen, wo Janukowitsch seine „Basis“ habe.

Dort könnte er Berichten zufolge an einem Kongress der Ukrainischen Front teilnehmen, zu der sich Delegierte aus dem prorussischen Osten und Süden der Ex-Sowjetrepublik versammeln. Nach anderen Berichten hat Janukowitsch dagegen das Land verlassen. Experten schließen nicht aus, dass die Ukrainische Front in Charkow einen gewaltsamen Vorstoß gegen die Regierungsgegner beschließen könnte.

Gewaltbereite Regierungsgegner hatten am Freitagabend auf dem zentralen Unabhängigkeitsplatz, dem Maidan, den Präsidenten aufgefordert, bis Samstagmorgen 10 Uhr (Ortszeit) zurückzutreten. Andernfalls wollten sie die Präsidialverwaltung stürmen. Dafür ernteten sie aus der Menge Applaus. Tausende Demonstranten auf dem Maidan riefen „Tod dem Verbrecher!“ und buhten aber, als ein Redner vorschlug, Janukowitsch die Ausreise aus dem Land zu ermöglichen.

Zwar war die Lage in Kiew am Freitagabend relativ ruhig, die Stadt schien schrittweise zum normalen Leben zurückzukehren, und auch der U-Bahn-Verkehr lief wieder an. Doch gleichzeitig wappneten sich radikale Regierungsgegner für mögliche neue Zusammenstöße mit den Sicherheitskräften. In einem improvisierten Lager hielten sie hunderte Glasflaschen und Benzinfüllungen für Molotow-Cocktails bereit. Derartige Brandbomben waren in den vergangenen Tagen wiederholt auf Polizeikräfte geschleudert worden.

Macht von Janukowitsch soll stark begrenzt werden

Am späten Freitagnachmittag, kurz nach Unterzeichnung des Interimsabkommens zur politischen Zukunft der Ukraine, hatte das Parlament in Kiew die Rückkehr zur Verfassung von 2004 beschlossen. Bei der Abstimmung votierten 386 Abgeordnete in der 450 Sitze zählenden Rada für die Rückkehr zur alten Verfassung. Der in dem Abkommen vorgesehene Schritt begrenzt die Macht von Präsident Viktor Janukowitsch und soll die weiteren Etappen des Übergangs einleiten. Präsident Viktor Janukowitsch muss das Gesetz noch unterschreiben, damit es in Kraft tritt. Binnen zehn Tagen soll nun eine Übergangsregierung der nationalen Einheit eingesetzt werden, bis Ende des Jahres soll ein neuer Präsident gewählt werden.

Das Parlament hatte außerdem die Weichen für eine Freilassung der inhaftierten Oppositionsführerin Julia Timoschenko gestellt. Die Oberste Rada stimmte am Freitag in Kiew dafür, die Vorwürfe gegen die Ex-Regierungschefin nicht mehr als Straftaten zu werten.

Die inhaftierte Oppositionsführerin Julia Timoschenko soll nun freigelassen werden.
Die inhaftierte Oppositionsführerin Julia Timoschenko soll nun freigelassen werden.

© dpa

Zuvor hatten Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier und sein polnischer Kollege Radoslaw Sikorski als Vermittler die Zustimmung des sogenannten Maidan-Rates eingeholt. Dem Gremium gehören verschiedene Gruppen von Regierungsgegnern an, die seit Wochen im Kiewer Stadtzentrum demonstrieren, darunter auch Radikale und Gewaltbereite. Diese hatten bisher Janukowitschs sofortigen Rücktritt gefordert.

Vorgesehen seien ein „Kabinett des nationalen Vertrauens“ innerhalb von zehn Tagen, eine Rückkehr zu einer parlamentarischen Demokratie sowie eine baldige Abstimmung über den Staatschef, hatte Janukowitsch einer Mitteilung zufolge am Vormittag gesagt. Fristen nannte er nicht. Eine EU-Delegation um Steinmeier sowie der russischen Vermittler Wladimir Lukin hatten die ganze Nacht hindurch in Kiew mit Janukowitsch und Oppositionsführern verhandelt. Lukin unterzeichnete die Vereinbarung allerdings nicht - im Gegensatz zu Steinmeier und Sikorski.

Merkel habe per Telefon vermittelt

Auch Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) hatte sich am Freitagmittag optimistisch geäußert, zu einer politischen Lösung des blutigen Konfliktes zu kommen. Merkel habe am Donnerstag mit US-Präsident Barack Obama, Russlands Staatschef Wladimir Putin und EU-Partnern beraten, wie dem Blutvergießen in Kiew Einhalt geboten werden könne, teilte Regierungssprecher Steffen Seibert am Freitag in Berlin mit.

Zudem habe Merkel in einem Telefonat Präsident Viktor Janukowitsch bewegen können, die Außenminister von Deutschland, Frankreich und Polen sowie einen russischen Vertreter als „Zeugen und Moderatoren“ von Gesprächen mit der Opposition zu akzeptieren. Merkel sehe eine vorsichtige, letzte Chance, nun zu einem politischen Prozess zu kommen. Die Bundesregierung hoffe, dass nun alle Seiten die inzwischen vorliegenden Vereinbarungen unterzeichneten.

Die Kanzlerin verurteilte die schreckliche Gewalt in der Ukraine. So sei sie erschüttert, dass Scharfschützen in Kiew gezielt auf Demonstranten geschossen hätten, sagte Seibert. Das dürfe es in Europa nicht geben. Es sei eine „entsetzliche menschliche Tragödie“, dass es Dutzende Tote in Kiew gegeben habe. Janukowitschs Regierung habe die Pflicht, für Gewaltfreiheit und freie Meinungsäußerung zu sorgen.

Nach der Unterzeichnung eines Abkommens sei die Krise noch nicht beigelegt und die Ukraine noch nicht befriedet, argumentierte Seibert weiter. Ob die EU die angedrohten Sanktionen gegen Einzelpersonen in der Ukraine umsetze, hänge jetzt von den Entwicklungen dort ab. Deutschland werde eine für die Befriedung des Landes erforderliche wirtschaftliche Stabilisierung unterstützen.

Der stellvertretende ukrainische Armeechef Dumanski ist zurückgetreten

Auf den Straßen in Kiew ging die Gewalt unterdessen weiter. Die Polizei berichtete, Regierungsgegner hätten in der Nähe des Maidan das Feuer auf Sicherheitskräfte eröffnet. Die Schüsse seien erwidert worden. Irritationen löste auch das Eindringen bewaffneter Polizisten in das Parlamentsgebäude während einer Krisensitzung aus. Wenig später verließen die Polizisten nach Oppositionsangaben das Gebäude wieder. Dort kam es während einer Sitzungspause zu Schlägereien zwischen mehreren Abgeordneten.

Zwei Tage nach der Entlassung des ukrainischen Armeechefs Wolodimir Samana ist dessen Stellvertreter Juri Dumanski zurückgetreten, damit das Militär nicht gegen die Demonstranten einschreitet. „Ich habe beschlossen, meinen Rücktritt einzureichen, um eine Eskalation zu verhindern“, sagte Dumanski am Freitag im TV-Sender Kanal 5.

Ukraine: In Kiew feuern Scharfschützen auf Demonstranten

Bei den Protesten der Opposition hatte es am Donnerstag ein Blutbad mit Dutzenden Toten gegeben. Die meisten Opfer starben, als Scharfschützen gezielt auf Demonstranten feuerten. Bei den Straßenschlachten wurden nach Regierungsangaben mindestens 47 Menschen getötet. Damit kamen seit Beginn des jüngsten Gewaltausbruchs am Dienstagnachmittag mindestens 75 Menschen ums Leben. Mediziner der Protestbewegung sprechen sogar von mehr als 100 Toten - allein am Donnerstag.

Der Dachverband der Ukrainer in Deutschland warf der Bundesregierung zu langes Zögern im Machtkampf in Kiew vor. Der Vorsitzende Roman Rokytskyy sagte der Nachrichtenagentur dpa: „Die Drohungen, Sanktionen einzuführen, haben zu lange auf sich warten lassen.“ Wären diese früher geäußert worden, hätten sie vielleicht einiges verhindern können.

Die Grünen-Abgeordnete und frühere Flüchtlingsbeauftragte der Bundesregierung, Marieluise Beck, machte Janukowitsch für die vielen Toten bei den blutigen Straßenschlachten in Kiew verantwortlich. „Das ist ein Krieg eines gnadenlosen Regimes gegen das Volk“, sagte Beck der Deutschen Presse-Agentur. Beck weilt zurzeit in Kiew. (afp/rtr/dpa)

Auch am Freitag liefern sich Oppositionelle und Sicherheitskräfte wieder Gefechte in Kiew.
Auch am Freitag liefern sich Oppositionelle und Sicherheitskräfte wieder Gefechte in Kiew.

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