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Kritik an Spendenaufrufen: Wie darf man menschliches Leid zeigen?

Spendenaufrufe setzen immer noch auf Schockbilder von abgemagerten Kindern oder Kriegsleid. Steckt hinter der guten Absicht eine böse Praxis? Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Max Tholl

Kong Nyong ist tot. Wann und woran genau er starb, ist unklar. Details gibt es nur sehr wenige. Aber um Details geht es bei Kongs Geschichte auch nicht. Er selbst ist nur ein Detail einer Katastrophe. Der südafrikanische Fotojournalist Kevin Carter, der 1993 die verheerende Hungersnot im Sudan dokumentierte, hielt Kong anfangs für ein Mädchen, als er ihn entdeckte: zusammengekauert, von Hunger und Pein gezeichnet, hinter ihm ein Geier in Lauerstellung.

Carter drückte auf den Auslöser und schoss den „Geier und das kleine Mädchen“, für das er mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnet wurde und das den Schrecken der sudanesischen Hungerkatastrophe für alle Welt verdeutlichte. Ein Bild, das bis heute ebenso schwer anzusehen wie zu vergessen ist.

Kongs Geschichte ist eine von vielen. Auch Sharbat Gula, das „afghanische Mädchen mit den grünen Augen“, das der amerikanische Fotograf Steve McCurry 1984 in einem pakistanischen Flüchtlingscamp fotografierte, wurde zum Symbol des Kriegsleids und der Unschuld, die dieses zerstört. Bilder wie diese sind ein Versuch, die Komplexität des Krieges oder einer Hungersnot für Außenstehende auf das Wesentliche zu reduzieren: das menschliche Elend. Die Bilder sollen sich einbrennen, an das moralische Gewissen appellieren, zum Helfen bewegen. Doch steckt hinter der guten Absicht eine böse Praxis?

Beispiel Ed Sheeran: Prominente geraten für Spendenaufrufe oft in Kritik

Diese Diskussion hat sich fast schon als vorweihnachtliche Tradition etabliert. Wenn in der Zeit der Barmherzigkeit und Nächstenliebe Wohltätigkeitsorganisationen mit schockierenden Krisenbildern auf Spendensuche gehen, werden meist Rufe laut, die ihnen Ausnutzung der Leidtragenden und Verfälschung der Tatsachen vorwerfen. Oft geraten Prominente, die für einen medialen Spendenaufruf posieren, in die Kritik. Dieses Jahr traf es unter anderem den britischen Sänger Ed Sheeran und den Schauspieler Tom Hardy.

Sheeran kümmert sich in einem britischen TV-Spot um Straßenkinder in Liberia. Hardy erzählt über die Hungersnot im Jemen und hinter ihm werden Schockbilder hungernder Kinder eingeblendet. Für sein Engagement wurde Sheeran vergangene Woche mit dem norwegischen Radi-Aid Preis bedacht, der jedes Jahr auf Charity-Kampagnen aufmerksam macht, die besonders stereotyp sind und Hilfsbedürftige zu hilflosen Opfern stilisieren. Die Kritik an den beiden TV-Spots reicht von Empathiemissbrauch bis zur Unterstellung neokolonialistischer Absichten. Verrückt.

Statt auf Schrecken soll auf Hoffnung gesetzt werden

Doch in der Debatte steckt eine wichtige Frage: Wie darf menschliches Leid dargestellt werden? 1981, als Wohltätigkeitsorganisationen noch komplett auf den Schockeffekt setzten, prägte der dänische Entwicklungshelfer Jorgen Lissner den Begriff „poverty porn“, also Armuts-Pornografie, um zu verdeutlichen, dass solche Bilder etwas offenbaren, das so intim ist wie unsere Sexualität: das Leid. Jedes Detail der Pein wird zur Schau gestellt, es grenzt an makabren Voyeurismus und verletzt das Individuum in seiner Würde, monieren Kritiker des „poverty porn“.

Die Ursachen für das Leid werden zudem oft nicht weiter erklärt. Wenn menschliches Elend ohne Kontext gezeigt wird, so die Kritiker, werden aus Hilfsbedürftigen oft schnell Opfer der eigenen Umstände. Das steigert die Apathie und Hoffnungslosigkeit und zementiert nur Vorurteile, dass die Millionen an Entwicklungsgeldern reine Verschwendung sind – mit negativen Folgen für die, die dringend Hilfe brauchen. Die „Ikonografie des Leidens“, wie es die Essayistin Susan Sontag beschrieb, hat in Zeiten der visuellen Reizüberflutung an Wirkkraft eingebüßt. Statt auf Schrecken soll deshalb auf Hoffnung gesetzt werden. Die Krisen sind menschengemacht und können durch Menschenhand entschärft werden.

Über die Ausrichtung und Herangehensweise einiger Spendenaufrufe kann man diskutieren, verteufeln braucht man sie deshalb noch lange nicht. Ein falscher Ansatz sollte eine gute Absicht nicht zunichtemachen. Die menschlichen Tragödien im Jemen und in Liberia sind real. Die TV-Spots von Sheeran und Hardy mögen vielleicht stereotypisch in ihrer Darstellung dieser Misere sein, das macht sie aber nicht falsch oder ausbeuterisch. Und schon gar nicht weniger notwendig. Anlass, die mediale Darstellung menschlichen Elends zu überdenken, gibt es, aber das Problem Armuts-Pornografie darf das eigentliche Problem Armut nicht überschatten. Der Fokus muss auf dem Helfen liegen. Debatten können zur Einsicht und Verbesserung führen. Kriegselend und Hungersnot lindern sie nicht.

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