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Politik: Kritische Masse

Die Welt lebt auf Kosten der Erde. Was außer Wachstum für unsere Gesellschaft wichtig ist, will der Bundestag neu definieren

Berlin - Der aktuelle Lebensmittelskandal um Dioxin in Eiern und Fleisch steigert das Bruttoinlandsprodukt (BIP). Denn mit diesem wichtigsten Messwert zur wirtschaftlichen Entwicklung werden alle geldwerten Erzeugnisse und Dienstleistungen lediglich zusammengezählt. Werden also tausende Hähnchen oder Schweine getötet, weil sie zuvor mit belastetem Futter großgezogen worden sind, ist das für das BIP ein Gewinn. Denn zumindest diejenigen, die die Tiere töten, verdienen daran.

Dass das BIP Schwächen bei der Beschreibung komplexer Ökonomien hat, ist keine neue Erkenntnis. Schon 1972 hat der Club of Rome vor den Grenzen des Wachstums gewarnt. Seit etwa 1987 werden diese Grenzen nach Berechnungen des Worldwatch Institutes bereits überschritten. An diesem Montag beginnt eine Bundestags-Enquête-Kommission, nach besseren Messwerten für den Wohlstand zu suchen.

Ende November stimmte der Bundestag einem Antrag von Union, FDP, SPD und Grünen zu, die Kommission mit dem sperrigen Namen „Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität – Wege zu nachhaltigem Wirtschaften und gesellschaftlichem Fortschritt in der sozialen Marktwirtschaft“ einzusetzen. 17 Abgeordnete und ebenso viele Sachverständige haben jetzt zwei Jahre Zeit, um einen „ganzheitlichen Wohlstands- und Fortschrittsindikator“ zu entwerfen und den „Stellenwert von Wachstum in Wirtschaft und Gesellschaft“ zu ermitteln. Dazu gehören Vorschläge, wie Wachstum und Ressourcenverbrauch entkoppelt werden könnten.

Die designierte Vorsitzende, die Leipziger SPD-Abgeordnete Daniela Kolbe, hat im Vorfeld der ersten Sitzung mehrmals darauf hingewiesen, dass es ihr vor allem um einen „neuen Indikator zur Bewertung des gesellschaftlichen Wohlstands neben dem BIP“ geht. Bereits der Antrag zur Einsetzung der Enquête lässt ahnen, wie schwierig da Kompromisse sein werden. Die einen wollen herausfinden, ob das deutsche Sozialstaatssystem auch bei niedrigen Wachstumsraten überlebt. Die anderen wollen sich die Einkommensgerechtigkeit genauer anschauen. Und die dritten wollen die Wettbewerbschancen für nachhaltiges Wirtschaften ermitteln.

Seit 1987 verbraucht die Weltbevölkerung mehr Ressourcen in einem Jahr als sich wieder neu bilden können. Seither lebt die Welt also auf Kosten der Erde.

Schon seit den frühen neunziger Jahren hat das Statistische Bundesamt jedes Jahr eine umweltökonomische Gesamtrechnung vorgelegt, die als Ergänzung zum BIP die Folgen des ungebremsten Wachstums auf das Naturkapital berechnet. Beachtet wurde dieser Datensatz in der Politik kaum.

Seit zehn Jahren gibt es eine Nachhaltigkeitsstrategie der Regierung, die anhand von 21 Indikatoren ein ziemlich umfassendes Bild der nationalen Wohlfahrt beschreibt. Neben dem BIP, das auch zu den Indikatoren gehört, werden beispielsweise auch der Bildungsstand und der Zustand der Umwelt erfasst. Die Indikatoren dieser Nachhaltigkeitsstrategie sind mit Zielwerten versehen, die der Politik als Orientierung dienen sollen. Doch in der politischen Diskussion führen auch sie neben dem BIP nur ein Schattendasein. 2012 soll ein neuer Fortschrittsbericht zur Nachhaltigkeitsstrategie vorgelegt werden, mit neu überarbeiteten Indikatoren.

Im Auftrag des Umweltbundesamts haben Hans Diefenbacher, stellvertretender Leiter der Forschungsstätte der Evangelischen Studiengemeinschaft in Heidelberg, und Roland Zieschank von der Forschungsstelle Umweltpolitik an der Freien Universität Berlin einen Nationalen Wohlfahrtsindex (NWI) entworfen. Er bezieht Hausarbeit, Kindererziehung, Bildungschancen, Einkommensverteilung und Kosten des Wachstums wie Ressourcenverbrauch und Umweltzerstörung mit ein. Dieser NWI zeigt nun im Gegensatz zum ständig wachsenden BIP, dass die nationale Wohlfahrt seit Jahren rückläufig ist.

Der NWI dürfte Union und FDP allerdings zu „sozialdemokratisch“ sein, weshalb sich die Regierungsparteien vermutlich eher an den Empfehlungen des Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung und seines französischen Gegenstücks, des Conseil d’Analyse économique, halten dürften. Die wichtigsten Wirtschaftsberater der beiden Regierungen haben im Dezember 2010 ihren Bericht vorgelegt, in dem sie Schlüsse aus einem umfassenden Gutachten im Auftrag des französischen Präsidenten Nicolas Sarkozy ziehen.

Sarkozy hatte eine Kommission unter der Leitung der beiden Wirtschaftsnobelpreisträger Joseph Stiglitz und Amartya Sen beauftragt, die Schwächen des BIP zu analysieren und Vorschläge zu deren Überwindung zu machen. Die Wirtschaftsberater nun halten einen einheitlichen Index für unmöglich und nicht sachgemäß. Sie wollen das BIP durch drei Datensammlungen ergänzen: Neben der wirtschaftlichen Leistung soll auch das materielle Wohlbefinden abgebildet werden. Sie wollen die Nachhaltigkeit der Wirtschaft mit einem dutzend Kriterien messen lassen. Zudem sollen der Treibhausgasausstoß pro Kopf, die Generationengerechtigkeit und die Biodiversität gemessen werden. Dazu ist den Wirtschaftsweisen allerdings ebenso wenig Konkretes eingefallen wie zur Messung der Lebensqualität, die sie als relevante Größe verstehen – aber zugleich für nur schwer messbar halten.

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