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KULTUR: KULTUR

„Ich erkenne die Mauern und die Straßen nicht wieder, vom Atelier ist nichts mehr übrig“, singt Charles Aznavour in „La Bohème“. „In seinem neuen Dekor sieht Montmartre traurig aus und der Flieder ist tot.

„Ich erkenne die Mauern und die Straßen nicht wieder, vom Atelier ist nichts mehr übrig“, singt Charles Aznavour in „La Bohème“. „In seinem neuen Dekor sieht Montmartre traurig aus und der Flieder ist tot.“ Von der Bohème, der jungen Künstlerszene auf der Anhöhe im Pariser Norden, die Aznavour 1965 besang, ist schon am Ende des Chansons nicht mehr viel übrig. An der Place du Tertre, wo einst Picasso wohnte, drängeln sich die Massenmaler heute für das schnelle Geschäft mit den Touristen. Junge Künstler zieht es heute häufig nach Berlin, weil die Szene lebendiger ist und die Mieten billiger. So auch der vielgelobte Cyprien Gaillard, der kürzlich den Preis der Freunde der Neuen Nationalgalerie für Junge Kunst bekam. Frankreich konzentriert sich auf die alten Schätze von Monet bis Matisse – davon hat es schließlich genug. Der Louvre ist eines der bedeutendsten Museen der Welt, Paris nach wie vor einer der wichtigsten Kunsthandelsplätze.

Montmartre ist heute eng verknüpft mit Amélie Poulain, der charmanten Heldin aus dem Film von Jean-Pierre Jeunet, die im „Café des deux Moulins“ in der Rue Lepic arbeitet. Vor allem im Kino zeigt Frankreichs zentralistische Kulturpolitik ihre Wirkung: Die Nation steht im Dienst der Kultur, seit 1959 kümmert sich ein ganzes Ministerium um die Förderung und die Verbreitung der französischen Kultur. Dass die Franzosen dies einst mit der „exception culturelle“, der Ausnahmestellung der französischen Kultur, begründeten, ist Teil des Selbstverständnisses. Die meisten Präsidenten hatten ihr kulturelles „projet“: François Mitterrand die Nationalbibliothek, Georges Pompidou sein Museum für moderne Kunst. Gemeinsam mit Valéry Giscard d’Estaing planten sie die Verlängerung der historischen Achse zur La Défense. TV5, drittgrößter internationaler Fernsehsender, soll Frankreichs Kultur in die Welt tragen.

Das funktioniert mal gut, mal weniger gut. In der Mode erfüllt Frankreich seinen eigenen Anspruch auf Weltgeltung: Die gesamte Saison ist auf die Fashion Week in Paris ausgerichtet. Die wichtigsten Luxusmarken der Welt wie Louis Vuitton, Chanel oder Dior sitzen hier. Im Musikbereich bleiben die Erfolge meist auf den nationalen Markt beschränkt – obwohl die Szene aufgrund einer festgeschriebenen Radioquote für französischsprachige Musik sehr produktiv ist. International wird Frankreich noch immer mit den alten Chansons verbunden. Zwar mischt David Guetta gerade die Szene für elektronische Tanzmusik auf, Massentaugliches wie zuletzt ZAZ bleibt aber eher die Ausnahme.

Dass das im Kino anders ist, liegt auch daran, dass es kein Land auf der Welt gibt, das seine Filmproduktion mit Geldern und Gesetzen stärker fördert und schützt als Frankreich. Die TV-Sender müssen Abgaben zahlen und dürfen zudem an bestimmten Abenden keine Filme zeigen – damit die Leute ins Kino gehen. So wechseln sich in den Kinosälen französische und US-Produktionen auf der Beliebtheitsskala ab. Und das Prinzip, mit wenig Aufwand globale Geschichten lokal zu erzählen, funktioniert auch im Ausland. Der internationale Erfolg von „Willkommen bei den Sch’tis“ wird derzeit von „Ziemlich beste Freunde“ noch übertroffen. Seit der Nouvelle Vague, dem Kunstkino der Sechzigerjahre, hat Frankreich nicht aufgehört, anspruchsvolle Filme zu drehen, die auch Einfluss auf das intelligente Publikumskino von heute haben. Und spätestens seit der französische Stummfilm „The Artist“ mit fünf Oscars ausgezeichnet wurde, ist Frankreich dort angekommen, wo sich das Land kulturell sieht: ganz oben.

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