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Jung

© ddp

Kundus-Affäre: Verteidigungsfall Jung

Es gibt eine alte militärische Erfahrung: Wer mit Artillerie wild um sich schießt, macht Lärm und Rauch, verfehlt aber sein Hauptziel – so in etwa handelte gestern auch die Opposition im Bundestag. Und der derzeitige Arbeitsminister lacht am Ende des Tages.

Von
  • Robert Birnbaum
  • Hans Monath

Franz Josef Jung versucht zu lächeln, aber es gelingt nur halb. Ein halbes Lächeln ist schlimmer als gar keins, weil man sofort sieht, dass es nicht stimmt. Jung sitzt auf der Regierungsbank im Reichstag. Vorne vom Rednerpult zeigt wieder einer anklagend in seine Richtung. Jung weiß, es geht um seinen Kopf. Er versucht noch mal zu lächeln. Es wird wieder schief.

Am Donnerstagmorgen ist die „Bild“-Zeitung mit einem Aufmacher-Bericht erschienen, den man, wäre es nicht so unpassend, eine Bombe nennen müsste. Die Bombe ist aber real gefallen, zwei Stück, 500 Pfund schwer, das Kleinste, was die F-15-Kampfjets der US-Luftwaffe in dieser Nacht zum 4. September an Bord hatten. Mehr als genug, um Punkt 1 Uhr 49 die zwei Tanklastwagen in die Luft zu sprengen, die im Kundus-Fluss auf einer Sandbank feststeckten. Bis zu 142 Menschen sind in dem Feuerball umgekommen oder verletzt worden. Noch zwei Tage später hat Jung darauf beharrt, dass bei dem vom deutschen Oberst Georg Klein angeordneten Angriff „nach den mir vorliegenden Berichten ausschließlich terroristische Taliban“ getötet worden seien.

Er hätte es besser wissen können, wenigstens im Nachhinein. Schon am Tag nach dem Bombardement gab es Berichte über tote und schwer verletzte Kinder, Berichte auch über Dorfbewohner, die von Taliban mit vorgehaltener Waffe gezwungen worden seien, mitten in der Nacht mit Traktoren und Schaufeln auf die Sandbank zu kommen – die Terror-Truppen wollten ihre kurz vorher gekidnappte Beute wieder flottkriegen. Reporter internationaler Nachrichtenagenturen am Ort berichteten das. Aber nicht nur sie: Die Bundeswehr selbst tat es auch. Feldjäger, die am Morgen danach auf Erkundung gingen, meldeten „sechs Patienten im Alter von 10 bis 20 Jahren“ im Krankenhaus Kundus. Ein deutscher Oberstarzt im Regionalkommando präzisierte später: Zwei Jungen, um die 14 Jahre mit „offenem Bruch“ und „Schrapnell-Verletzungen“.

Diese Hinweise gingen offenbar noch am Abend des Bomben-Tages an das Einsatzführungskommando in Potsdam. Von dort wandern solche Meldungen gemeinhin zum Einsatzführungsstab im Berliner Bendlerblock. Auch ein Gesamtbericht, zwei Aktenordner voll, nahm irgendwann diesen Weg. Chef des Führungsstabs ist der Generalinspekteur Wolfgang Schneiderhan. Eine Kopie geht routinemäßig an den Staatssekretär Peter Wichter. Was dann aus diesen Unterlagen wurde? Das ist, wie sich noch zeigen wird, eine verdammt gute Frage.

Am Donnerstagvormittag rumort es im Plenarsaal. Der brisante „Bild“-Bericht liegt auf vielen Abgeordnetentischen. Der Deutsche Bundestag soll über die Verlängerung des Afghanistan-Mandats debattieren. Zuerst redet Außenminister Guido Westerwelle. Er geht auf die Sache nicht ein. Die Opposition ruft empört dazwischen, besonders die Grünen. Unionsfraktionschef Volker Kauder versucht zu beschwichtigen: „Jetzt wartetses noch, s’ kommt noch was“, ruft er. Und es kommt. Karl-Theodor zu Guttenberg macht keine Umschweife. Der Neue im Verteidigungsministerium hatte als praktisch erste Amtshandlung den Angriff von Kundus als „militärisch angemessen“ gerechtfertigt. Er hat vor diesem Urteil den Bericht der Nato-Schutztruppe Isaf studiert. Dass es ein eigenes Bundeswehr-Dokument gab, habe ihm keiner gesagt. Dieser Bericht „ist mir gestern zum ersten Mal vorgelegt worden“.

Ein Raunen geht durch die Reihen, erregte Zwischenrufe von den Oppositionsbänken. „Hierfür wurde an maßgeblicher Stelle Verantwortung übernommen“, fährt der CSU-Mann fort. Schneiderhan habe um seinen Abschied ersucht. Wichert habe ebenfalls Verantwortung übernommen. „Wenn ich hier höhnisches Lachen höre“, sagt er, danke er beiden trotzdem für ihren jahrzehntelangen Einsatz. Union und FDP applaudieren trotzig. Die Bundesanwaltschaft werde den Bericht jetzt erhalten, der Verteidigungsausschuss auch. „Das ist mein Verständnis von Transparenz“, sagt Guttenberg. Dann fährt da fort, wo er eigentlich anfangen wollte: beim Einsatz in Afghanistan.

Es gibt jetzt also zwei Möglichkeiten. Jung hat von den zwei Aktenordnern gewusst und sie verschwiegen. Dann hat der Minister die Öffentlichkeit, das Parlament und die Justiz belogen. Oder Schneiderhan und Wichert haben die brisante Unterlage die ganze Zeit über für sich behalten. Dann hat der Minister Jung sein Ministerium, vorsichtig formuliert, nicht im Griff gehabt.

Das eine, die Lüge, erzwingt einen Rücktritt. Das zweite, die Schwäche, legt einen Rückzug sehr, sehr nahe.

Ganz nah läge jedenfalls, dass der Bundesarbeitsminister Jung von seinem Platz auf der Regierungsbank aufsteht und dem Parlament darlegt, was er zu sagen hat. Jung will aber nicht. Der Hesse hat Erfahrung mit Affären. Er ahnt, dass das Rednerpult in der aufgeheizten Atmosphäre für ihn zur Anklagebank würde. Er will lieber an einem Ort reden, an dem keiner zwischenruft. Vor den Kameras des Senders Phoenix zum Beispiel. Als die Opposition das mitbekommt, reicht es. Der SPD-Fraktionsgeschäftsführer Thomas Oppermann stellt den Antrag, das Regierungsmitglied Jung aufs Podium zu zitieren. Abstimmung. Unklares Ergebnis. Also: Hammelsprung. Alle raus aus dem Saal, jeder einzeln durch eine der drei Türen wieder rein, über denen „Ja“, „Nein“ und „Enthaltung“ steht.

Angela Merkel zieht verärgert den Mund zusammen. Die Kanzlerin hat sich vorhin demonstrativ zu Jung gesetzt, beide haben fröhliche Miene gemacht. Aber die Merkel, wie sie vor und nach der Showeinlage dasitzt, straft die Geste Lügen. Sie hat Jung schon einmal in dieser leidigen Kundus-Sache aus der Patsche helfen müssen, als sie höchstselbst in einer Regierungserklärung die Sätze sagte, die der Rheinhesse tagelang nicht über die Lippen bekommen hatte: Wenn es zivile Opfer gegeben haben sollte, bedaure sie das zutiefst. Heute betont Jung übrigens, dass er zivile Tote „nie ausgeschlossen“ habe. Wenn man es ganz spitzfindig seziert, ist das sogar richtig. Weil Jung immer dieses „nach den mir vorliegenden Berichten“ eingefügt hat. Nur – wieso lagen ihm die, die auf anderes hindeuteten, nicht vor?

Der Hammelsprung nimmt seinen Lauf. Man kann das wörtlich nehmen, weil plötzlich viele Abgeordnete von Union und FDP Richtung Plenarsaal sprinten. Das interne Alarmsystem der Fraktionen hat sie herbeizitiert. Erika Steinbachs Absätze klappern eilig über Steinboden. Im Foyer macht sich derweil jeder so seine Gedanken. „Das wird sehr schwierig für Jung“, sagt ein frischgebackenes Regierungsmitglied. Dann schaut der Mann versonnen auf die Trauben aus Abgeordneten und Journalisten vor dem Plenarsaal: „In so einem Moment möchte man doch wieder Opposition sein.“

Die hat’s heute leicht, die Opposition. „Für uns ist Herr Jung nicht mehr tragbar“, sagt Grünen-Chefin Claudia Roth. SPD-Fraktionschef Frank-Walter Steinmeier fordert, die Regierung müsse „politische Verantwortung“ übernehmen. Die Drohung mit einem Untersuchungsausschuss steht im Raum. „Wenn es drauf ankommt, kann Merkel sehr schnell entscheiden“, sagt der Regierungsmann, bevor er wieder in den Plenarsaal geht.

Dort wird das Abstimmungsergebnis verkündet: Die Koalition hat gewonnen; Jung muss nichts sagen. Woraufhin der Minister aufsteht und zum Rednerpult geht, weil er jetzt so weit ist, dass er doch was sagen will. Erstens, „dass Offenheit, dass Transparenz, dass Ehrlichkeit die Grundlage für Vertrauen ist“. Und zweitens, dass er sich jetzt alle Unterlagen ansehen und danach hier im Bundestag noch einmal Stellung nehmen werde.

Kurz nach Mittag läuft Merkel mit vier Leibwächtern die Treppe zum Nordeingang hinunter. Vor der Drehtür wartet ein Kamerateam. „Warum war Jung so schlecht informiert?“ Merkel bringt nur ein grimmiges „Guten Tag“ über die Lippen. Westerwelle hat einen Interviewtermin abgesagt. Guttenberg wird in Potsdam keine „Bambi“-Verleihung zieren. Krisengespräche. Man erfährt darüber naturgemäß wenig Konkretes. Nur eins ist selbst durch geschlossene Türen hindurch zu riechen: Unsicherheit. Gibt es einen Ausweg für Jung, etwas, was sein Verhalten erklärt und rechtfertigt?

Am Nachmittag fügt es sich, dass Merkel mit Nato-Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen vor die Presse treten muss. Frau Kanzlerin, stehen Sie noch hinter dem Minister Jung? Sie habe im Fall Kundus immer auf „volle Transparenz“ gedrungen, sagt Merkel. Und sie habe volles Vertrauen darin, dass Jung „im gleichen Geiste“ handeln werde. Rückendeckung ist das nicht. Es klingt mehr nach angewandtem Darwinismus. Soll der Jung doch mal sehen, ob er davon kommt. Wenn nicht – tja!

Es ist fast 18 Uhr, als im Plenarsaal der Zusatztagesordnungspunkt 3 aufgerufen wird: „Aussprache zu der von Minister Jung in Aussicht gestellten Erklärung“. Jung sitzt in der Regierungsbank links außen. Merkel hatte ihn knappstmöglich begrüßt. Er legt jetzt eine Handvoll große Karteikarten auf das Rednerpult, dann nimmt er „wie folgt Stellung“. Auf das Wesentliche eingedampft, sieht die Selbstverteidigungslinie so aus: Der fragliche Abschlussbericht sei erst am 9. September in Afghanistan zusammengestellt und am 14. nach Potsdam übersandt worden. Erst am 5. oder 6. Oktober habe ihn General Schneiderhan um Erlaubnis gefragt, diesen Bericht der Nato für deren laufende Untersuchung zu geben. „Konkrete Kenntnis von dem Bericht habe ich allerdings nicht erhalten.“

Der Linke Gregor Gysi wird später halbwegs fassungslos fragen, wieso ein Minister einen Bericht freigibt, den er gar nicht kennt, wieso er ihn nicht kennt und wieso er ihn nicht pflichtgemäß auch gleich der Staatsanwaltschaft im Verfahren gegen den Obersten Klein übergibt. Der Grüne Jürgen Trittin wird fragen, wieso das Parlament von dem Bericht nie erfuhr: „Sie haben uns alle hinter die Fichte geführt!“ Gute Fragen. Doch die Opposition belässt es nicht dabei. Gysi argwöhnt, was wohl die Kanzlerin gewusst habe? Andere zielen auf Guttenberg, andere auf das Bombardement als solches.

Es gibt eine alte militärische Erfahrung: Wer mit Artillerie wild um sich schießt, macht Lärm und Rauch, verfehlt aber sein Hauptziel. Irgendwann steht Merkel auf, geht zu Jung und wechselt ein paar Worte mit ihm. Gemeinsamer Gegner verbindet. Jung lacht. Aber das ist vielleicht zu früh.

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