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Nataša Čengić (li.) und ihr Sohn Roćko werden von der Benevolencija-Pflegerin Nada Putica betreut.

© Nihad Nino Pušija

La Benevolencija: Die Weiterhelfer

Während der Belagerung von Sarajevo baute die kleine jüdische Gemeinde ein Hilfsnetz auf. Anfangs spendete ganz Europa, heute sind nur noch die Berliner Unterstützer dabei. Ein Besuch in der bosnischen Hauptstadt.

Zwei Sessel, ein Fernseher, viele Bücher. Das Wohnzimmer von Branka Besarević ist gemütlich und ordentlich. Auf einem kleinen Tisch am Rand zeichnet sich unter einem beigen Deckchen der Umriss eines Laptops ab. Die 93-Jährige streicht im Vorbeigehen leicht über den Stoff und sagt: „Das ist Skype. Sehr wichtig für mich.“ Sie benutzt den Computer ausschließlich, um mit ihrer Tochter in den USA zu kommunizieren. Wie es funktioniert, hat ihr Marija Saravija gezeigt. Sie ist Besarevićs zweite Verbindung in die Außenwelt. Seit zehn Jahren kümmert sich die Pflegerin der jüdischen Hilfseinrichtung La Benevolencija um die alte Dame. „Sie ist wie meine Tochter“, sagt sie und schaut rüber zu der hageren Frau mit dem braunen Zopf. Sie lächelt.

Die beiden sind ein gutes Team, sprechen vertraut und liebevoll miteinander. Marija erledigt alle Besorgungen, für Branka sind die hohen Treppenstufen zu ihrer im dritten Stock liegenden Wohnung im Zentrum Sarajevos ein unüberwindliches Hindernis. Wenn Branka ein Medikament braucht, besorgt es die Jüngere, wenn etwas kaputtgeht, repariert sie es, und wenn Branka in einer Zeitung ein Foto von Vanessa Redgrave mit einem Blaustich im Haar sieht, tönt Marija ihr die dichten, feinen Haare.

Neben den vielen praktischen Dingen zählt für Branka aber vor allem, dass überhaupt jemand da ist – zumindest für ein paar Stunden in der Woche. Ihr Mann Risto, ein Historiker, ist vor 16 Jahren gestorben, viele Freunde ebenfalls. „Ich bin nicht übermäßig gesellig, kann mich gut beschäftigen“, sagt sie und schickt Marija ins andere Zimmer, um eine der Puppen zu holen, für die sie ein Kleid gehäkelt hat. Ein altes Hobby von ihr. „Aber manchmal ist es sehr schwer, alleine zu sein.“

Einst konnten die Alten in Bosnien und Herzegovina ganz selbstverständlich davon ausgehen, dass sich ihre Kinder einmal um sie kümmern werden. Das hat sich geändert. Was nicht nur mit der zunehmenden Individualisierung der Gesellschaft zu tun hat, sondern auch eine Folge des Krieges in den Neunzigern ist. 1991 gab es rund 4,4 Millionen Einwohner, bei der Volkszählung im vergangenen Jahr waren es nur noch etwa 3,8 Millionen. Rund 100 000 Menschen kamen im Krieg ums Leben, andere blieben nach der Flucht im Ausland oder kehrten dem Land später den Rücken. Denn die wirtschaftliche Lage ist desolat. Die Arbeitslosenquote liegt bei etwa 44 Prozent, bei den jungen Menschen sind zwei Drittel ohne Beschäftigung. Und selbst wer einen Job hat, wird oft monatelang nicht bezahlt.

Dass der Krieg auch Bosnien erreichte, überraschte viele Bewohner

Kaum fünf Gehminuten von Brankas Wohnung entfernt, liegt am Ufer des Flüsschens Miljacka die 1902 erbaute aschkenasische Synagoge. Von hier aus wird der Pflegedienst organisiert, der neben Branka noch 115 weiteren alten Menschen in Sarajevo und fünf anderen Städten hilft. Das strahlend weiße Gebäude mit den vier Kuppeln ist das letzte aktive jüdische Gotteshaus von Sarajevo. Einen eigenen Rabbi hat die Gemeinde nicht, für ihre Gottesdienste reicht ihr ein Saal im Obergeschoss. Nur noch etwa 700 Juden wohnen in der Stadt, die einst wegen ihrer kulturellen und religiösen Vielfalt als das „Jerusalem Europas“ bezeichnet wurde. Von den etwa 12000 Juden, die 1941 hier ansässig waren, überlebten nur etwa 1000 Holocaust und Weltkrieg.

Als knapp fünf Jahrzehnte später in den jugoslawischen Nachbarrepubliken blutige Auseinandersetzungen toben, glauben viele Bosnier, bei ihnen könne es niemals so weit kommen. Schließlich ist die Bevölkerung gemischter als in Serbien oder Kroatien. Ein Drittel aller Ehen in Sarajevo wird zwischen Angehörigen unterschiedlicher Religionen geschlossen. Ohnehin spielen Glauben und Volkszugehörigkeiten im Alltag kaum eine Rolle. Oft wissen selbst Freunde nicht einmal, wer zu welcher Gruppe gehört. Warum also aufeinander schießen?

In der jüdischen Gemeinde war man weniger naiv. Der Jurist Jakob Finci – 1943 in einem Lager auf der italienischen Insel Rab geboren, in das seine Eltern aus Sarajevo verschleppt worden waren – belebt den traditionsreichen Bildungs- und Hilfsverein La Benevolencija wieder. Dieser beginnt damit, Vorräte anzulegen. Als im April 1992 der erste Schuss in Sarajevo fällt, stehen 50 Tonnen Lebensmittel und Medikamente bereit. Das Erdgeschoss der Synagoge ist von nun an zur Hälfte Lagerhaus, die andere dient als Suppenküche. Ein medizinisches Team wird aufgebaut, dazu macht die Frauensektion der Gemeinde Hausbesuche bei den Alten und Kranken, die allein in der von Serben belagerten Stadt zurückgeblieben sind. La Benevolencija entwickelt sich zu einer der effektivsten Hilfsorganisationen. Mit ihren drei Apotheken, die gratis Medikamente verteilen, deckt sie 40 Prozent des Bedarfs ab. „Damals gab es den bekannten Spruch: Was du bei Benevolencija nicht findest, gibt es in der Stadt nirgends“, erinnert sich Jakob Finci, der dem Verein bis heute vorsteht und außerdem der Präsident der Jüdischen Gemeinden Bosniens ist.

Das Hilfsangebot steht nicht nur Juden, sondern allen verbliebenen 380 000 Einwohnern der Stadt offen. Auch die Menschen, die bei La Benevolencija arbeiten, kommen aus allen Volksgruppen. „Das überraschte damals die ausländischen Journalisten“, erzählt Finci. „Ihre Frage an unsere nichtjüdischen Freunde war: Warum arbeitest du als Muslim, Serbe, Kroate in einer jüdischen und nicht in deiner nationalen Organisation? Die Antwort war fast immer identisch: Wir sind Freunde aus der Zeit vor dem Krieg. Und ich weiß, dass es hier nicht darum geht, wer man ist, sondern darum, was man braucht und wie wir helfen können.“ Der multikulturelle Geist lebt hier weiter. Zum Trotz der von Radovan Karadžić und Ratko Mladić angeführten Aggression, deren Ziel ein serbischer Staat auf bosnischem Territorium ist. Täglich lassen sie über 300 Granaten auf die Hauptstadt feuern, Scharfschützen Jagd auf die Bewohner machen. 10 000 Menschen sterben bei der fast vier Jahre andauernden Belagerung, der längsten des 20. Jahrhunderts.

Rund hundert Spender in Deutschland helfen rund hundert alten Bosniern

Eine Krankenschwester von La Benevolencija behandelt während der Belagerung die 93-jährige Donka Nicolić aus Sarajevo.
Eine Krankenschwester von La Benevolencija behandelt während der Belagerung die 93-jährige Donka Nicolić aus Sarajevo.

© Edward Serotta/Centropa

Die internationale Gemeinschaft sieht dem barbarischen Treiben lange zu, doch immerhin erreichen Hilfstransporte die eingekesselte Stadt. Etwa ein Drittel jeder Lastwagenladung wird von den Serben konfiziert. Jakob Finci gelingt es irgendwie, sie davon zu überzeugen, dass sie damit im Falle von La Benevolencija ihren eigenen Landsleuten schaden. Denn auch Serben profitieren von der Hilfe der Organisation, die Spenden aus aller Welt erhält. In den Niederlanden, der Schweiz, Österreich, England, Frankreich, Belgien und Italien gibt es La Benevolencija-Schwestervereine, zu denen 1994 auch eine deutsche Gruppe hinzukommt.

Rachel Kohn, eine der sieben Gründerinnen erinnert sich, wie sie damals von Berlin aus Unterstützung organisierte: „Wir halfen, den Nahrungsmittelvorrat zu sichern, damit die Suppenküche weitergeführt werden konnte. Wir standen vor Supermärkten und baten die Menschen, uns etwas für die Lebensmittelpakete beizusteuern.“ Aber auch Kleidung, Nahrungsmittel, Kinderspielzeug und Medikamente wurden gesammelt und zunächst ins kroatische Split transportiert und von dort aus nach Sarajevo. Für Geldspenden suchte man zuverlässige Boten.

"Wir wollten nicht einfach abhauen", sagt Rachel Kohn aus Berlin

La Benevolencija Deutschland feierte kürzlich 20-jähriges Bestehen und ist mittlerweile Hauptsponsor des Home-Care-Programms in Sarajevo. Die Gruppe begann erst im letzten Kriegsjahr mit ihrem Engagement, hielt dafür aber als einzige bis heute durch. Die sieben Schwestervereine verabschiedeten sich nach dem Krieg, genau wie viele internationale NGOs, die ihre Mitarbeiter aus Bosnien abzogen. Rachel Kohn, die Künstlerin und Vorsitzende des Berliner Frauenmuseums ist, kann das verstehen: „Sie haben sich wahrscheinlich nach einer gewissen Zeit gedacht: Irgendwann muss Schluss sein, wir können euch ja nicht lebenslänglich unterstützen. Ihr müsst es selber auf die Reihe bekommen.“ Es gebe zu viele Konflikte auf der Welt, in denen humanitäre Hilfe gebraucht werde. Während des Kosovo-Kriegs geriet auch La Benevolencija Deutschland in eine Krise, weil einige Mitglieder sich dort engagieren wollten. „Wir fanden aber, dass es falsch gewesen wäre, wieder abzuhauen und dem nachzujagen, was gerade aktuell war“, sagt Kohn.

Dass von Berlin immer noch jedes Jahr 20 000 bis 25 000 Euro nach Bosnien fließen, liegt vor allem an der ungebrochenen Spendebereitschaft von etwa 100 in ganz Deutschland verteilten Unterstützern. Sie kommen ebenfalls langsam in die Jahre, denn die meisten sind von Beginn an dabei. Zwei bis drei Mal im Jahr erhalten sie von Kohn und ihren fünf Mitstreitern einen Brief mit Informationen über das Programm und sehen so, dass die Hilfe immer noch bitter nötig ist. Denn auf staatliche Unterstützung brauchen pflegebedürftige Alte in Bosnien und Herzegovina nicht zu hoffen, in Sarajevo gibt es beispielsweise nur ein Altersheim. Die Alternative sind private Pflegedienste, doch die sind für viele unerschwinglich. Etwa 500 Konvertible Mark (rund 255 Euro) kostet es, einen bettlägrigen Patienten privat zu versorgen. Die Durchschnittsrente beträgt aber gerade mal 340 KM (173 Euro).

Die 86-jährige Nataša Čengić, die mit ihrem geistig behinderten Sohn Roćko, 66, im Stadtteil Grbavica wohnt, bekommt immerhin 500 KM. Sie leidet unter einer schadhaften Hüftprothese und braucht einen Rollstuhl. Monatelang hat sie gewartet, dass das Sozialamt ihr hilft. Nichts geschah, bis schließlich La Benevolencija einen Rollstuhl organisierte. „Ich war schon vier Jahre nicht mehr vor der Tür“, sagt sie beim Gespräch in ihrem Wohnzimmer. Zwar hat ihr Haus einen Lift, aber keine Rampe an der Eingangstreppe. „Ich lese viel, sonst würde ich verrückt werden.“

Čengić ist in Sarajevo eine bekannte Frau. Sie stammt aus einer alten montenegrinischen Familie und war mit dem 18 Jahre älteren Ferid Čengić verheiratet, der muslimischer Herkunft war. Zusammen kämpften sie bei den Partisanen. Als Ferid in die Hände der Ustascha fiel, tauschte Tito ihn gegen einen Deutschen aus. „Tito hat meinen Mann gerettet. Doch für das, was später passierte, würde ich mich nicht bei ihm bedanken“, sagt Čengić. Ihr Mann, der von 1947-–48 Bürgermeister von Sarajevo war, geriet mit der Partei in Konflikt und wurde für dreieinhalb Jahre auf die Insel Goli Otok verbannt. Ihren drei Söhnen erzählte Čengić, er sei im Krankenhaus.

Goran, ihr Ältester, 1946 geboren, war ein großes Handballtalent, spielte schon mit 17 für den Club Bosna und wurde später Nationalspieler. Im Juni 1992 sprang er einem bosniakischen (muslimischen) Nachbarn zu Hilfe, der von Serben bedroht wurde. Er bezahlte seinen Einsatz mit dem Leben. Sein Mörder, der unter dem Beinamen Monster von Grbavica berüchtigt war, wurde vergangenes Jahr zu 45 Jahren Haft verurteilt. Mutter Čengić kann das die Trauer um den Sohn, dessen Schwarz-Weiß-Foto neben ihr auf der Anrichte steht, nicht lindern.

Die EU drängt zur Änderung des Wahlrechts - geschehen ist nichts

Sie hat viel durchgemacht, musste auch noch den Tod ihres jüngsten Sohnes Igor verkraften. Sie hält sich trotzdem wacker, achtet auf ihre äußere Erscheinung und ist geduldig mit Sohn Roćko, der auf dem geistigen Niveau eines Kindes stehen geblieben ist. Ohne Nada Putica, ihre Helferin von La Benevolencija, käme sie allerdings nicht zurecht. Die 52-Jährige übernimmt vom Einkaufen bis zu Arztbesuchen mit Roćko alle aushäusigen Aufgaben.

Nada ist seit sechs Jahren bei der Organisation, die noch 13 weitere Pflegerinnen beschäftigt. Obwohl La Benevolencija keine Sozial- und Rentenbeiträge zahlen kann und das Gehalt von 415 KM nur die Hälfte des Durchschnittslohnes beträgt, ist der Arbeitsplatz für die Frauen ein Segen. Denn die Bezahlung erfolgt regelmäßig und pünktlich. Nada Putica war glücklich, überhaupt wieder einen Job zu bekommen, nachdem ihr in einer Fabrik gekündigt worden war. Sie hat zwei Kinder und einen Mann. „Er hat auch Arbeit, wurde aber schon drei Jahre lang nicht mehr bezahlt,“ sagt sie. Solche Erfahrungen sind in Bosnien keine Seltenheit.

Benevolencija-Präsident Jakob Finci spricht von neuen Türen, an die man klopfen werde. Er scheint sich nicht allzu viel davon zu versprechen. Er hat in der Vergangenheit schon zu hören bekommen: Warum fragt ihr Juden nach Geld, ihr seid doch reich. Finci, einst Anwalt eines staatlichen Maschinenbaukonzern und später Botschafter in der Schweiz, ist ein kluger, ausdauernder Kämpfer. Er wird weiter anklopfen. Aber er ist realistisch. In seinem Land, das sich seit dem Dayton-Friedensabkommen von 1995 keine Verfassung gegeben hat und noch immer vom Hohen Repräsentant der UN überwacht wird, geht es nur langsam voran.

2009 hat Finci versucht, eine Reform anzustoßen, indem er vor dem Europäischen Menschenrechtsgerichthof dagegen geklagt hat, dass in Bosnien nur Muslime, Kroaten und Serben für Parlament und Präsidialamt kandidieren dürfen, Juden und Roma nicht. Er und sein Mitkläger Dervo Sejdić, ein Rom, bekamen Recht. Das Land wurde aufgefordert, sein Wahlrecht zu ändern. Geschehen ist nichts. Die Wahl vom vergangenen Wochenende war bereits die zweite seit dem Urteil. Es sei für die EU aber auch nicht leicht, sagt Finci mit leicht ironischem Lächeln: Sein Land spreche immer mit drei Stimmen, einer serbischen, einer kroatischen und einer muslimischen. Dass diese Aufteilung überwunden werden kann, und man aber mit Zusammenarbeit mehr erreicht, zeigt La Benevolencija nun seit 22 Jahren. In der weißen Synagoge am Ufer der Miljacka könnten bosnische Politiker so einiges lernen.

Spenden an: Benevolencija Deutschland e.V., IBAN DE53 1004 0000 0131 5555 00, BIC COBADEFFXXX

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