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Politik: Leben an der Peripherie

Von Christiane Peitz

Kreuzberg brennt. Polizeistationen und Schulen gehen in Flammen auf. Während die Unruhen auf Hamburg und das Ruhrgebiet übergreifen, fordern die jugendlichen Randalierer, viele von ihnen Migranten der zweiten und dritten Generationen, den Rücktritt von Innenminister Otto Schily. Die entsetzte Öffentlichkeit debattiert über das Scheitern der Integration.

Ein groteskes, in Deutschland kaum vorstellbares Szenario. Die Bilder mögen sich gleichen: Aber Frankreichs brennende Vorstädte und die rituelle Wiederkehr der 1.Mai-Krawalle in BerlinKreuzberg verbindet kaum mehr als das Spektakel von Feuer und Flamme. Clichysous-Bois und Kreuzberg, die Lebenswirklichkeit der französischen und der deutschen Migranten, das ist nicht das Gleiche. Dort haben viele längst die Staatsbürgerschaft, und die jeunesse, deren Großeltern aus Algerien oder anderen nordafrikanischen Staaten stammen, spricht meist prima Französisch. Dennoch fühlt sie sich verraten und ausgegrenzt. Die Ghettoisierung beginnt schon mit der Stadtplanung. Wer am Rand wohnt, an der Peripherie von Paris, in den Banlieues von Marseille, sieht sich abgeschoben. Zu Recht.

Und hier? Wird Migranten das Wahlrecht verweigert, sprechen viele selbst nach Jahrzehnten kaum Deutsch. Keine Frage, auch in unseren Großstädten gibt es Ausländerviertel mit hoher Arbeitslosen- und Kriminalitätsrate, auch Berlin hat Problemkieze und No-Go-Areas. Aber zu einer kompletten sozialen Entmischung und gefährlichen Marginalisierung wie in Frankreich kommt es hier nicht. Kein deutscher Spitzenpolitiker geht auf populistischen Stimmenfang und leistet sich verbale Kraftmeierei, indem er, wie Frankreichs Innenminister Nicolas Sarkozy, Ausländer kurzerhand zum „Abschaum“ erklärt. Im Gegenteil: Ausländerstellen bemühen sich um einen menschenwürdigen Behördenalltag, mancher Beamte spricht Türkisch oder Arabisch. Bildungssenatoren bemühen sich um mehr Migrantenkinder schon in den Kitas. Das ist längst nicht genug, aber das Mindeste: dass die Chancengleichheit für Zuwanderer eine politische Selbstverständlichkeit ist.

Es ist ein Unterschied, ob ein Lawand-Order-Mann wie Sarkozy aus dem angeblichen Scheitern der republikanischen Integration martialische Konsequenzen zieht oder ob Neuköllns Bürgermeister Heinz Buschkowsky nach Jahren des politischen und sozialen Bemühens um die Migranten von dramatischen Problemen spricht. In Frankreich wurde vieles erst gar nicht versucht, wurden Missstände geduldet, verschleppt, verschlimmert. Ein Dilemma, gegen das Bürgerrechtler, Soziologen und Filmemacher seit geraumer Zeit protestieren. Vergeblich, wie sich jetzt zeigt.

Also alles bestens hier zu Lande? Sarkozy, der die Stadtguerilleros mit dem Hochdruckreiniger wegfegen will, ein Teufelskerl? Und einer wie Schily eine Lichtgestalt? Nein, die multikulturelle Gesellschaft gerät auch hier an ihre Grenzen. An andere Grenzen. Manche Migranten in Frankreich schotten sich nach außen ab und trotzen der Polizeigewalt, nicht zum ersten Mal übrigens. Manche Zuwanderer in Deutschland ziehen sich nach innen zurück, dorthin, wo kein Sozialarbeiter sie mehr erreicht. Dort werden Brandsätze auf den Straßen gezündet, hier spielen sich hinter verschlossener Tür menschliche Dramen ab: Zwangsheirat, Ehrenmorde, Gewalt gegen Frauen, in den Familien, in den Schulklassen.

In beiden Ländern hat eine falsche Toleranz, ein falscher Kulturrelativismus das eine wie das andere zu lange ignoriert. Es ist nicht getan mit Wahlrecht und Sprachlern-Programmen. Erst allmählich greift in Deutschland die Einsicht, dass Menschenrechte und das Grundgesetz die Basis für jede Integrationspolitik sein müssen. Auch für den Dialog mit dem Islam.

Frankreich, die Multikulti-Nation, wie haben wir sie beneidet, 1998, bei der Fußball-WM. Diese bunt gemischte Mannschaft: Ja, das ist der Sport, die Gesellschaft, die Menschengemeinschaft der Zukunft. Erst kürzlich lagen die Franzosen ihrem Helden Zinedine Zidane wieder zu Füßen. Die ganze Wahrheit liegt nicht auf dem Platz.

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