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Religion und Spiritualität werden beim "Religionsmonitor" mit Abstand als die unwichtigsten Lebensbereiche eingeschätzt

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Leben ohne Gott: Was nach der Religion kommt

Die Religiosität der Bevölkerung geht in Deutschland seit Jahrzehnten zurück. Das belegt auch der neueste „Religionsmonitor“ der Bertelsmann-Stiftung. Was bedeutet das für den Zustand der Gesellschaft?

Von Matthias Schlegel

In den alten Bundesländern geben gerade noch 22 Prozent der Befragten an, mindestens einmal im Monat einen Gottesdienst, einen Tempel oder das Freitagsgebet zu besuchen oder an sonstigen spirituellen Handlungen teilzunehmen. Im Osten Deutschlands sagen das gar nur noch zwölf Prozent, also etwa halb so viele, über sich. 24 Prozent der Befragten im Westen beten nach eigenem Bekunden regelmäßig, also täglich – genauso viele gaben dort an, niemals zu beten. Im Osten liegt die Zahl der regelmäßig Betenden bei zwölf Prozent – zwei Drittel der Befragten tun das niemals. Immerhin glaubt im Westen noch etwa jeder Zweite „ziemlich“ beziehungsweise „sehr“ daran, dass Gott, Gottheiten oder etwas Gottähnliches existieren. Im Osten des Landes tut dies nur knapp jeder Vierte. Unter allen im „Religionsmonitor“ abgefragten Lebensbereichen werden Religion und Spiritualität mit Abstand als die unwichtigsten eingeschätzt. Das war schon in der Vorgängerstudie 2008 so, und daran hat sich 2013 nichts geändert. Die Intensität der Religiosität, so stellt die Studie fest, nimmt von Muslimen über Katholiken zu Evangelen und Konfessionslosen stetig ab.

Die Abkehr von der Religion ist kein beunruhigendes Zeichen

Detlef Pollack, Professor für Religionssoziologie an der Universität Münster und gemeinsam mit Olaf Müller von der gleichen Universität Autor des „Religionsmonitors“ im Auftrag der Bertelsmann-Stiftung, sagte dem Tagesspiegel, dass der Rückgang der Religiosität und der Prozess der „Minorisierung von Religion“ in Deutschland seit Jahrzehnten zu beobachten sei. Zwar sei ganz allgemein die Bindungskraft von Religion für die Gesellschaft unumstritten. Doch von der zunehmenden Abkehr gehen nach Pollacks Ansicht keine beunruhigenden Signale für den Zustand der Gesellschaft aus. Nach wie vor seien moralische Werte sehr stark in der Gesellschaft verankert. „Es gibt keinen Verlust im moralischen Niveau“, sagte er. Denn Religion sei zwar eine wichtige, aber eben „nur eine von sehr vielen Institutionen, die Werte vermitteln“. Die Zivilgesellschaft selbst strahle sie aus, in Familie und Schule würden sie weitergegeben. „Werte sind in Deutschland nach wie vor hoch akzeptiert.“

Viele Werte gelten weiter, auch wenn sie sich von ihrem religiösen Ursprung emanzipiert haben

In der Studie wird festgestellt, dass sich die Menschen in ihren Wertvorstellungen immer weniger an religiösen Autoritäten orientieren, zumal sich viele Werte von ihrem religiösen Ursprung emanzipiert hätten. So gälten Nächstenliebe, Solidarität und die Achtung vor dem Leben mittlerweile als allgemeine humanistische Werte. Die Unterschiede im Wertgefüge zwischen religiösen und nicht religiösen Bevölkerungsgruppen ebneten sich zunehmend ein.

Obwohl Religiosität in der Gesellschaft nicht mehr sehr stark verankert ist, sind Offenheit und Toleranz gegenüber gläubigen Menschen sehr groß, was wohl auch als Ausdruck des allgemein hohen Werteniveaus zu deuten ist. Etwa 80 Prozent der Befragten in Ost- und Westdeutschland sagen, dass man allen Religionen gegenüber offen sein sollte. Gegenteiliger Meinung sind in Westdeutschland nur zehn Prozent, in Ostdeutschland 16 Prozent.

Fast die Hälfte empfindet den Islam als Bedrohung

Doch zwei weitere Befunde stören den Eindruck dieser positiven Aufgeschlossenheit nachhaltig: So empfinden 49 Prozent der Menschen im Westen und sogar 57 Prozent der Menschen im Osten Deutschlands den Islam als Bedrohung – deutlich mehr als jene, die ihn als Bereicherung empfinden (Westen: 31, Osten: 21 Prozent). Andere Religionen wie Buddhismus, Hinduismus, Judentum oder Christentum selbst werden als wesentlich weniger bedrohlich eingeschätzt. Allerdings meinen immerhin 19 Prozent in Ost wie in West, dass vom Judentum Bedrohungen ausgingen (Wahrnehmung als Bereicherung: 52 beziehungsweise 53 Prozent).

Der Islam sei die Herausforderung für andere Religionsgemeinschaften schlechthin, sagt Autor Detlef Pollack. Zwar komme dem Pluralismus eine hohe Wertschätzung zu, doch das Zusammenleben der Kulturen, unter denen der Islam in Deutschland eine herausragende Rolle spiele, berge eben Konfliktpotenziale. Dabei hat der Religionssoziologe festgestellt, dass diejenigen, die selbst religiös gebunden sind, dem Islam gegenüber offener sind als die Nichtgläubigen.

Atheismus wird als Bedrohung der christlichen Basis unserer Kultur angesehen

Ein Weiteres überrascht: Auch die Ablehnung jeglicher Religiosität, also der Atheismus, ist vielen Deutschen nicht geheuer. Immerhin 36 Prozent der Westdeutschen empfinden den Atheismus als Bedrohung (Ostdeutschland: 16 Prozent). Während ihn 49 Prozent der Befragten im Osten als bereichernd empfinden, sagen das im Westen nur 34 Prozent. Pollack will das nicht etwa als Relikt des Antikommunismus im Westen sehen. Vielmehr sei „eine Grundakzeptanz des Christentums in unsere Traditionsbestände eingelassen“. In dem Moment, in dem Atheismus ins Spiel komme, werde das als Bedrohung des christlichen Fundaments unserer Kultur empfunden. Es gebe eine verbreitete kritische Position gegenüber radikalen, fanatischen, fundamentalistischen Haltungen. In gewisser Weise werde Atheismus als eine solche verstanden, ähnlich dem Islamismus.

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