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Politik: Lehren aus Kaiser Wilhelms Zeiten

Deutschland hat sich nie zur Einwanderung bekannt – doch inzwischen tut sich Entscheidendes

Ihre Geschichten gleichen sich aufs Haar, egal woher sie kommen: „Ich wollte ein paar Jahre bleiben, Geld verdienen und dann zurückkehren“, erzählt Domenico S., der in den 60er Jahren aus Sizilien nach Stuttgart kam. Er blieb bis heute. Ebenso Ismet N. der 1973 in Tempelhof landete. In Deutschland bleiben? „Niemand wollte das. Wir dachten, wir könnten ein wenig zusammensparen, um uns einen Traktor zu kaufen oder ein Haus zu bauen“, sagt er. Ismet und Gülcan G. sind inzwischen deutsche Staatsbürger, ihre Enkel sind hier geboren und zurück in die Türkei geht man bestenfalls für einen Urlaub.

Vielleicht war es ja dieses lange Nichtwahrhabenwollen der Einwanderer selbst, die eine wirkliche Integrationspolitik in Deutschland zwar nicht verhindern half, aber sie doch erleichterte. Was jeder hätte wissen könnte, wollte keiner wissen: dass das Leben eine Schwerkraft hat, die alle ehrlich gemeinten Pläne zunichte machen kann: Man lebt jahrzehntelang weit weg von zu Hause, arbeitet mit Menschen anderer Sprache zusammen, bekommt seine Kinder im fremden Land, die wachsen dort auf – und irgendwann ist man ein anderer Mensch. Vielleicht nicht ganz deutsch, aber auch nicht mehr zu Hause in dem Land, das man verlassen hat.

Aber natürlich hatten einige der deutschen Probleme mit der Einwanderung auch eine lange und traurige Tradition. Der staatlich geförderte Zustrom von Ausländern begann in Westdeutschland mit dem deutsch-italienischen Anwerbevertrag von 1955, also nur zehn Jahre nach dem Ende des Krieges, für den bis zum Schluss die Arbeitskraft nicht nur von Juden, sondern auch von Millionen „Fremdarbeitern“ rabiat ausgebeutet und „Vernichtung durch Arbeit“ betrieben wurde. Zwangsarbeiter aus Italien, dem Nazi-Deutschland den Waffenstillstand übel nahm, wurden nach 1943 nicht besser behandelt als die verachteten Slawen, die der Rassenwahn der Nazis ans Ende ihrer Skala gestellt hatte. Aus den 50er und frühen 60er Jahren gibt es Berichte von Konflikten um Barackenlager, Diskriminierung von Italienern am Arbeitsplatz, die die Behörden und die Politik rasch beizulegen suchten – Echo des schlechten Gewissens über noch frische Verbrechen. Die Masseneinwanderung begann im Schatten einer schrecklichen und noch gegenwärtigen Vergangenheit.

Und auch die wenig ältere deutsche Geschichte hatte ein eher trauriges Erbe hinterlassen. Hierzulande war Einwanderung, anders als in den USA, nie wesentlicher, ja nicht einmal akzeptierter Teil der nationalen Geschichte. Deutschland war zwar seit dem Boom in der Folge der Reichsgründung 1871 immer wieder massiv auf die Arbeitskraft von Ausländern angewiesen, aber es wehrte sich gleichzeitig gegen die Folgen. Da Deutschland „ein später Nationalstaat“ war, schreibt der Freiburger Migrationshistoriker Ulrich Herbert in seiner „Geschichte der Ausländerpolitik in Deutschland“, habe es „seine offenkundigen Defizite beim Prozess der inneren Nationsbildung schon früh durch eine aggressive Politik der Identitätsbildung kompensiert. Dabei bildete die Abgrenzung von denen, die als fremd und ,ausländisch‘ definiert wurden, ein wichtiges Mittel zur Herausbildung des inneren Zusammenhalts“. Das Übrige habe ein beispielloser Aufschwung getan, der die Lebenswelt eines Großteils der Deutschen massiv veränderte und ihre Unsicherheit und ihre Sehnsucht nach Ausgleich dafür noch verstärkt habe.

Kaiser Wilhelms Zeiten bieten allerdings auch im Guten Anschauungsmaterial für heute: Ulrich Herbert verweist auf die „Ruhrpolen“, Landarbeiter aus dem von Preußen okkupierten Westteil Polens, die an die Ruhr geholt wurden. Sie waren preußische und deutsche Staatsbürger, die man nicht nach Belieben heuern und per Ausweisung feuern konnte. Also wollte man sie rasch germanisieren. Doch die meist jungen Arbeiter „pflegten ihre eigene Kultur und ihren engen Zusammenhalt in den Einwanderervierteln“, schreibt Herbert. Erst spät „kam es zu einer „langsamen Vermengung mit anderen landsmannschaftlichen und sozialen Milieus des Ruhrgebiets“. Heute könnte man diesen Prozess als gelungen ansehen.

Die Perspektive der deutschen Politik beginnt sich durch Pisa-Schock, Arbeitslosigkeit und Globalisierungsängste zu wandeln. Migranten, die jahrzehntelang als Problem galten, werden langsam als Ressource entdeckt. Und vielleicht ist mit diesem Mentalitätswandel der wichtigste Schritt getan. Der Innenminister erinnerte kürzlich an die Integration von mehr als zwölf Millionen Heimatvertriebenen in Ost und West nach dem Krieg. Die habe man in seinem Schwarzwald damals auch nicht gerade begeistert empfangen, meinte Wolfgang Schäuble. Aber die Integration habe schließlich geklappt: „Das sollte uns Mut geben. Es ist zu schaffen.“ Der Integrationsgipfel könnte dafür ja ein neuer Anfang sein.

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