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Politik: Leipziger Bergpredigt

Der 9. Oktober 1989 gilt als Schlüsseldatum der friedlichen Revolution. 70 000 erzwangen Gewaltlosigkeit

Von
  • Matthias Meisner
  • Matthias Schlegel

Leipzig/Berlin - Werner Schulz erzählt von dem Tag, als sei es gestern gewesen. „Wer versteht die Sprache dort unten?“, so habe Bärbel Bohley beim Treffen des Neuen Forums in Berlin gefragt, als es um die Kontakte zu den Oppositionellen in Leipzig ging. Dass sich nicht nur in Berlin, sondern auch in Sachsen etwas zusammenbraute, hatte sich seit Tagen abgezeichnet. Der gebürtige Sachse Schulz erklärte sich bereit, am 9. Oktober als „Verbindungsmann“ nach Leipzig zu fahren.

Lange hatten sich die Bürgerrechtler in Berlin auf eine Eskalation in der Hauptstadt eingestellt. Schulz war an den Protesten am Alexanderplatz gegen die Fälschung der Kommunalwahlen vom 7. Mai beteiligt, hatte viele Verhaftungen miterlebt. Doch spätestens seit der massiven Gewalt Anfang Oktober in Dresden, als dort die Flüchtlingszüge aus der CSSR den Hauptbahnhof passierten, galt auch für Leipzig: „Man musste das Schlimmste befürchten.“ Wenn der heutige Grünen- Bundestagsabgeordnete nun auf die erste friedliche Montagsdemonstration in Leipzig zurückblickt, sagt er: „Ein Wunder. Für mich war das ein Zeichen der Ohnmacht. Nach langer Zeit war die Saat der DDR-Kirchenopposition aufgegangen.“

70 000 Menschen sollen es an jenem Montag in Leipzig gewesen sein. Für Tobias Hollitzer vom Leipziger Bürgerkomitee ist die genaue Zahl weniger interessant. Es zählte nur: „Es waren zu viele. SED-Funktionäre und Sicherheitsleute hatten den Eindruck, die Situation nicht in den Griff zu bekommen.“ Vielleicht sei bei denen gar ein moralischer Reflex im Spiel gewesen: „So viele Demonstranten – das können nicht alles Rowdies sein.“

Viele Legenden sind um dieses entscheidende Datum der friedlichen Revolution gestrickt worden. Und manch einer von denen, die damals die Befehlsgewalt hatten, gerierte sich später als Friedensengel. Hollitzer sieht das nüchterner. Die Staatsmacht sei vorbereitet gewesen. „Es gibt nicht einen einzigen Beleg dafür, dass von Berlin aus massiv mäßigend eingegriffen worden wäre“, sagt er. Außerdem habe es eine „Stellvertretersituation“ gegeben: SED-Sekretär Hackenberg, der in Leipzig den erkrankten Schumann vertrat, wollte angesichts des riesigen Menschenauflaufs Honecker sprechen, doch der wurde von Krenz vertreten. Keiner habe sich getraut, weit reichende Entscheidungen zu treffen. Hätte es aus der Menge heraus Zeichen von Gewalt gegeben, wäre die Situation gekippt, ist sich Hollitzer sicher.

Der berühmt gewordene „Aufruf der sechs“ – Gewandhausdirigent Kurt Masur, Pfarrer Zimmermann, Kabarettist Bernd Lutz Lange und die drei Sekretäre der SED-Bezirksleitung Meyer, Pommert und Wötzel – sei für den friedlichen Verlauf wichtig, aber nicht entscheidend gewesen. Leipzigs Polizeichef habe ihn erst um 20 Uhr zur Kenntnis genommen. Aber ein anderer Aufruf kirchlicher Arbeitsgruppen zur Gewaltlosigkeit kursierte seit Tagen in Leipzig. In ihm tauchte erstmals das Motto auf „Wir sind ein Volk“ – freilich bezogen auf das Miteinander von Demonstranten und Sicherheitskräften.

Werner Schulz erinnert sich an die gemischten Gefühle an jenem Tag. Stasi in Zivil, Bereitschaftspolizei, eine Stadt im Belagerungszustand – hatte er schon gedacht, als er am Hauptbahnhof aus dem Zug gestiegen war. Als die Demonstranten von der Nikolaikirche aus am Ring entlangzogen, die vielen Kerzen flackerten – „unglaublich beeindruckend“ sei das gewesen. Dann der Weg vorbei an der Runden Ecke, dem Sitz der Leipziger Stasi: „Da war einem schon mulmig zumute.“ Die Staatsmacht aber beugte sich den Demonstranten, folgte deren Ruf „Keine Gewalt“ – der, so Schulz, „kürzesten Zusammenfassung der Bergpredigt“.

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