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Minarette in Deutschland - hier die Moschee am Görlitzer Bahnhof in Kreuzberg: Für die einen Zeichen des Ankommens, für die andern eins der Fremdheit.

© Michael Hanschke/ picture-alliance/ dpa

Leitkultur und Flüchtlinge: Angela Merkel entdeckt das deutsche Abendland

In der Flüchtlingskrise präsentiert sich Angela Merkel als Christin. Plötzlich kommt es auf den Glauben an. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Moritz Schuller

Es ist kein Platz in der Herberge. Das ist die Geschichte, die in den vergangenen Monaten in Deutschland umgeschrieben wurde. Das Land macht Ernst mit dem ersten Akt des Krippenspiels und öffnet seine Herbergen (und Turnhallen), um Menschen, die aus der Fremde kommen, Quartier zu bieten.
In der Bibel steht nichts von Obergrenzen und auch nichts von schneller Abschiebung, sagt der Kölner Kardinal Rainer Maria Woelki im Domradio. Dass ein katholischer Geistlicher die Flüchtlingskrise für die Profilierung der Kirchen nutzt, ist sicher nicht überraschend. Bemerkenswert ist, dass er sich dabei weniger auf allgemeine Werte des Christentums beruft, sondern die Bibel im Wortlaut zur politischen Handlungsanleitung macht. Ein Salafist, der auf Youtube die wörtliche Anwendung des Korans auf die Politik des 21. Jahrhunderts fordert, wird als unzeitgemäß belächelt.

Es kommen keine Menschenmassen, sagt Merkel, sondern einzelne Menschen

Woelki ist nicht der Einzige, der in der Flüchtlingsdebatte das Christentum ins Feld führt. Die Kanzlerin hat in einem Interview gesagt: „Wenn ich was vermisse, dann ist es nicht, dass ich irgendjemandem vorwerfe, dass er sich zu seinem muslimischen Glauben bekennt, sondern dann haben wir doch auch den Mut, zu sagen, dass wir Christen sind.“
Die CDU ist eine Partei, die dem Glauben historisch näher steht als andere. Was Angela Merkel auf dem Parteitag gesagt hat, ändert nichts an den Problemen, über die auch CDU-Bürgermeister klagen. Sie hat ihren Kritikern keine neuen Angebote gemacht, sie hat ihnen stattdessen den Glauben zurückgegeben. Sie hat ihren bekannten Satz erweitert: Wir schaffen das, weil wir Christen sind. Es kommen keine Menschenmassen, sagte Merkel in ihrer Rede am Montag, sondern einzelne Menschen, jeder mit der „von Gott gegebenen Würde“.

Merkel braucht keinen theologischen Unterbau für ihre Haltung. Es reicht, wenn sie an das appelliert, was empathiefähige Menschen als "gut" empfinden.

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Möglicherweise ist der Glaube ein unterschätzter Faktor in der Politik Merkels. Dass man sich damit isolieren kann, wird ihr, die als Tochter eines Pfarrers in der DDR aufgewachsen ist, bewusst sein. Auch, dass man dem Glauben nicht mit Kontingenten kommen kann. Glauben hat man. Erstaunlich ist, wie viele ihr auf diesem Weg folgen: Obwohl sehr unterschiedliche Interessen zum Vorschein kommen – vom Facharbeiterimport bis zum Selbsthass –, zeigt es sich, dass Merkel in der Flüchtlingsfrage eine Christlich Demokratische Union zusammengeführt hat, die über ihre Partei hinausreicht und offenbar eine gesellschaftliche Lücke schließt: Der Gang zum Lageso, mit den Spenden unterm Arm, entspringt einem inneren Antrieb vieler im Land. Es ist eine Selbstverwirklichung auf der Grundlage christlicher Ethik. Die Haltung Deutschlands in der Flüchtlingskrise macht überraschend deutlich, wie sehr dieses Land noch immer geprägt ist von einer christlichen Leitkultur und dass es die auch mit Leben zu erfüllen bereit ist, wenn es darauf ankommt. Diese Kultur ist bei Woelki explizit, aber offenbar noch immer verankert auch bei vielen, die mit der Kirche nichts mehr zu tun haben. Sie wird nicht einmal infrage gestellt, wenn die Kanzlerin beginnt, in eher unüblicher Weise Politik und Glaube zu vermengen.

Der Glaube ist keine politische Kategorie

Das heißt, dass die muslimischen Flüchtlinge hier auf kein postmodernes Werte-Allerlei treffen, sondern auf viel christliche Tradition. Mehr noch, auf ein Land, das seine Motivation, den muslimischen Flüchtlingen zu helfen, gerade aus dieser Tradition zieht: Waren wir früher Kreuzritter, sind wir heute Kreuzretter.
In einem solchen Land stellt sich die Frage von Integration jedoch völlig neu. Sie wird konfliktreicher. Denn leicht lässt sich auch anders sehen, was die gottgegebene Würde des Menschen ausmacht, von der Merkel spricht – und von welchem Gott sie kommt. So richtig es ist, dass die Religiösen viel gemeinsam haben, vor allem Respekt voreinander, bleibt eine christlich unterfütterte Politik eine Herausforderung für jeden muslimischen Deutschen. Integration heißt dann in Wahrheit eben doch: die christliche Leitkultur Deutschlands zu akzeptieren. Im Moment lautet die Botschaft der Politik, dass es reicht, Deutsch zu lernen.

Der Glaube ist schließlich keine politische Kategorie. Er ist nicht verhandelbar – und deshalb als Maßstab für den Umgang mit einem politischen Problem wie der Flüchtlingskrise nicht unproblematisch. Merkels religiöse Aufladung ihrer Politik motiviert offenbar viele; sie schreckt aber auch alle ab, denen der Glaube fehlt. Jene, die mit der Geschichte von der Herberge nicht vertraut sind, und auch jene, die meinen, dass solche Geschichten in der Politik nichts zu suchen haben. Dazu gehören nicht zuletzt die vehement laizistischen Franzosen, auf deren Hilfe die Kanzlerin jedoch nun angewiesen ist. Damit werden auch die Grenzen deutlich, die der religiös durchzogenen Politik gesetzt sind.

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