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2013

© AFP

Politik: Letzte Zuflucht Würde

Jeder Mensch hat einen Platz auf der Welt, weil er ein Mensch ist. Das steht in den Allgemeinen Menschenrechten, die 65 Jahre alt werden, das wusste schon Kant. Was heißt das für die Flüchtlinge von heute?

Sie heißt Kartäusergasse und führt am Germanischen Museum entlang, nicht weit von der alten Nürnberger Stadtmauer entfernt. Der israelische Künstler Dani Karavan gab dieser Gasse einen zweiten Namen: „Straße der Menschenrechte“. Das war 1993. Seither können Bewohner und Besucher an einer Reihe von 29 Säulen und einer Eiche die 30 Artikel der „Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte“ ablesen, die vor 65 Jahren, am 10. Dezember 1948, von den Vereinten Nationen verabschiedet wurde.

Man muss scharf hinsehen, um die wie in eine Haut geritzten Texte zu entziffern, die auf Deutsch und in je einer von 29 Fremdsprachen in die Säulen eingefräst sind. Es ist ein anstrengender Weg. Nacken und Augen schmerzen. Wer will, kann sich davon in den gegenüber gelegenen „Bocksbeutelstuben“ erholen. Denn dies ist nicht nur die Stadt der Reichsparteitage, Rassengesetze und Kriegsverbrecherprozesse, sondern auch der Frankenweine und Lebkuchen und nicht zuletzt auch Albrecht Dürers. Besonders auf ihn und die kulturelle Vergangenheit der Stadt nahm Karavan in seiner Eröffnungsrede Bezug. So versteht sich Nürnberg heute als „Stadt des Friedens und der Menschenrechte“. Seit 1995 wird dort alle zwei Jahre der Internationale Nürnberger Menschenrechtspreis vergeben.

„Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren.“ Artikel 1, erster Satz. Ihn ließ Karavan auf Jiddisch eingravieren, im Gedenken an sein eigenes gemordetes Volk. Und auf Hebräisch Artikel 15, der das Recht auf Heimat und Staatsbürgerschaft enthält. In seiner Rede zum 20-jährigen Bestehen der Straße der Menschenrechte im Oktober wies er auf ihn hin: „Diesen Artikel haben auch wir, die Israelis, unterzeichnet. Vielleicht ist es endlich an der Zeit, dies in die Tat umzusetzen und das Recht der Palästinenser auf eine eigene Heimat und einen eigenen Staat anzuerkennen.“

Im Jahr 65 der Erklärung der Menschenrechte landen an den Stränden Südeuropas Woche um Woche Flüchtlinge aus Afrika, sofern sie nicht vorher im Mittelmeer ertrunken sind. Mehr als eine Million Kinder aus Syrien sind auf der Flucht. Täglich fliehen wirtschaftlich Benachteiligte oder rassistisch Verfolgte wie Sinti und Roma über die durchlässig gewordenen europäischen Grenzen. In Berlin campieren seit Monaten Flüchtlinge verschiedener Herkunft auf öffentlichen Plätzen, protestieren gegen „unwürdige“ Aufenthaltsbedingungen, ausgeliefert nicht nur einem Dickicht bürokratischer Bestimmungen, Zuständigkeiten und Rechtswege, sondern auch jenen Gruppen, die den Protest für ihre eigenen Zwecke zu instrumentalisieren versuchen. Im Herzen Europas, in Frankreich, Deutschland, in Ungarn wächst neuer Antisemitismus herauf; die aus Französisch-Guayana stammende Justizministerin Frankreichs ist wüster rassistischer Diskriminierung ausgesetzt. Frauen, Kinder, menschliche Organe werden wie Objekte gehandelt. Fremdenfeindlichkeit feiert ihre fatale Wiederkehr. Was heißt da Würde?

Europa lag in Trümmern, als sich 1945 die Vereinten Nationen gründeten und in ihrer Charta die völkerrechtlichen Normen festlegten, gegen die „Geißel“ des Kriegs und für den „Weltfrieden“. Ihre Präambel enthält, was drei Jahre später die Verfasser der Menschenrechtserklärung im ersten Artikel festschreiben werden: die angeborene „Würde“ jedes Menschen, seine daraus folgende Gleichheit vor Recht und Gesetz.

Zum Redaktionskomitee gehört auch der im Februar verstorbene Stéphane Hessel, Sohn des Berliner Flaneurs Franz Hessel, der in der Résistance gekämpft und das KZ Buchenwald überlebt hatte. In den folgenden Jahren ist er als UN-Diplomat zuständig für die Menschenrechte und die Probleme der Integration. Seine im hohen Alter verfassten Manifeste, die zu Empörung und Engagement aufrufen, bewegen die Welt. Mit fast 80 Jahren geht er in Paris für die rechtlosen „Sans-papiers“, Migranten und Flüchtlinge ohne Papiere, auf die Straße und antwortet auf die Frage, wie viel Empörung Diplomatie vertrüge, ohne Zögern: alle. Zeitlebens betont Hessel die Universalität der Menschenrechte, welch einen Fortschritt, welche Hoffnung für die Menschen sie darstellten, trotz der bitteren und unbewältigten Probleme der Gegenwart.

Der Weg aber, den die Menschenrechte bis zu ihrer heutigen Verfassung nahmen, ist ein langer und dorniger, und er führt weit in die Vorgeschichte der Menschheit zurück. Denn seit jeher haben Menschen Leid und Ungerechtigkeit erfahren, deren Ursache bei äußeren Mächten gesucht oder wie Hiob ihre Anklage gegen einen Gott erhoben. Die griechische Mythologie hatte die Gottheit Dike, die Wächterin über Recht und Gesetz. Der große Dichter Aischylos wird ihr im 5. Jahrhundert v. Chr. in seiner „Orestie“ Athene zugesellen, als Gründerin einer neuen Rechtsordnung, die das alte (Blut-)Rachegesetz ablöst, das in Formen der Lynchjustiz bis heute nachhallt.

Auch menschliches Rechts- und Gerechtigkeitsempfinden ist etwas, das historisch wächst und reift, so wie auch der Sinn für Ungerechtigkeit. Schicksalsschläge geben keine Antwort auf ihr Warum. Soweit es aber Menschenmacht ist, die Leid und Ungerechtigkeit zufügt, sind es die Gesetze der Menschen, die Antwort geben müssen. Frei sei der Mensch geboren, so Rousseau, aber „überall liegt er in Ketten“. Das war dann schon im 18. Jahrhundert. Die Vorahnung der Revolution.

Bevor diese jedoch auf europäischem Kontinent den entscheidenden historischen Einschnitt setzt, schaffen 1776 die „Virginia Bill of Rights“ und wenig später die amerikanische Unabhängigkeitserklärung eine Vorform menschenrechtlich fundierter Rechtsordnung: Gleichheit und damit gleiches Recht sei dem Menschen „angeboren“, ja auch sein „Streben nach Glück“. Erstmals in der Geschichte werden Grundrechte zur Norm, an der auch staatliche Gewalt ihre Grenze hat.

1789 folgt dann im Zuge von Aufklärung und Aufstand gegen die absolutistischen Herrscher die Französische Revolution mit ihrer bis heute gültigen Menschenrechtstrias: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, Letztere manchmal ersetzt durch „Geschwisterlichkeit“, „Solidarität“ oder auch „Inklusion“.

Dieser großen historischen Zäsur präludiert indessen noch eine Gestalt, die wie keine andere bis heute in unser moralisches Rechtsverständnis hineinwirkt: der Königsberger Weltbürger Immanuel Kant. Nicht nur sein „kategorischer Imperativ“, der eine säkularisierte Version der Nächstenliebe darstellt, hat bewusst gemacht, was alltäglich immer schon erfahrbar war – dem Anderen nicht zuzufügen, was man für sich selbst nicht möchte. Mehr noch: In seiner kleinen Schrift „Zum ewigen Frieden“ von 1795 greift er den menschenrechtlichen Kern der Hospitalität auf, um daraus – sechs Jahre nach der Französischen Revolution – die Idee einer republikanisch-völkerrechtlichen Verfassung zu entwickeln. Hospitalität als „Besuchsrecht“ (er unterscheidet es hier vom Gastrecht) komme den Menschen zu „vermöge des Rechts des gemeinschaftlichen Besitzes der Oberfläche der Erde“. Entsprechend betont er das „Recht eines Fremdlings, seiner Ankunft auf dem Boden eines anderen wegen, von diesem nicht feindselig behandelt zu werden. Dieser kann ihn abweisen, wenn es ohne seinen Untergang geschehen kann; solange er aber auf seinem Platz sich friedlich verhält, ihm nicht feindlich begegnen“.

Erst mit großer Verspätung – und nach dem Scheitern der Revolution von 1848 – drangen die Ideale und Rechtsnormen auch in die deutsche Verfassung ein. Unzulänglich, wie man heute weiß, in die Weimarer Verfassung, der ersten republikanischen auf deutschem Boden und so instabil, dass einer wie Hitler sie zwar mit demokratischer Mehrheit und doch wie in einem Handstreich außer Kraft zu setzen vermochte. Die Folgen sind bekannt. Aus dem Geiste der UN-Charta von 1945 und dem Geist der Résistance gegen den nationalsozialistischen Terror, aber auch gegen die ideologischen Barbareien in der damaligen Sowjetunion, wurde die Deklaration der Menschenrechte von 1948 geboren, deren Echo ein Jahr später im Deutschen Grundgesetz widerhallt: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“

Seither wurden die in dieser Erklärung festgehaltenen Grundrechte in zahlreichen Konventionen verbessert, ergänzt und verfeinert. Die wichtigste: Kein Mensch darf unter keinen Umständen zum Tod verurteilt werden. Seit 2000 ist die Abschaffung der Todesstrafe in einem Land Bedingung für seine Aufnahme in die EU. Bis heute wurde das Verbot nicht von allen Mitgliedsstaaten der UN ratifiziert. Noch immer finden in etlichen Ländern außerhalb Europas, auch in den USA, Hinrichtungen statt. Es gab Abu Ghraib, es gibt Guantanamo.

Todesstrafe und Folter sind die äußerste Negation der Würde des Menschen, sind Negation seines Menschseins und Menschlichseins überhaupt. Denn auf nichts anderes bezieht sich die Würde des Menschen. Sie meint keinerlei Verdienst, keine Würde qua Amt oder Stellung, sondern das letztgültige Humanum eines jeden Menschen, das keiner Begründung bedarf. Ob Bürger, Opfer, Täter, ob Kinderschänder, Folterer, Massenmörder oder Henker, jedem kommt seine eigene Menschenwürde zu, auch dem, der sie mit Füßen trat. Strafe ja, Ächtung nein. Unmissverständlich hat diesen Gedanken einmal Gandhi formuliert, als er sagte: Die Tat sei zu hassen, nicht der Täter.

Als Konsequenz dieser unverbrüchlichen Einsicht wurde 1959 der „Europäische Gerichtshof für Menschenrechte“ gegründet und 2002 der „Internationale Strafgerichtshof“ in Kooperation mit den Vereinten Nationen eingerichtet.

Ein Jahr darauf erregte dieser Fall Aufsehen: Ein Kind wird entführt, man verhaftet den Täter, wo aber ist das Kind? Was ist mit ihm geschehen? Der Täter verweigert die Auskunft, die Zeit drängt. Der verhörende Polizist greift zu einem verbotenen Mittel: Er droht dem Täter mit Folter. Um wessen Wohl und Würde geht es hier? Um die des Kindes oder des Täters? Die Androhung von Folter gegenüber dem Kindesentführer und später überführten Kindesmörder Magnus Gäfgen durch den damaligen Vizepräsidenten der Frankfurter Polizei, Wolfgang Daschner, wurde vom Gericht klar als rechtswidrig verurteilt. Denn Menschenwürde ist nicht verhandelbar.

Und nicht nur in Grenz- oder Konfliktfällen, auch im Alltag gilt ihr Maßstab: niemanden zum Objekt machen, weder für eigene Zwecke noch für fremde. Da liegt auf der Station einer Klinik eine alte Frau unbekleidet und schmerzstöhnend auf dem Bett, bei offener Tür – ausgeliefert den Blicken eines jeden Passanten, der auf dem öffentlichen Gang vorbeikommt. Selbst wenn sie ihr Ausgeliefertsein an fremde Blicke vor Schmerzen gar nicht bemerkt, so ist es in diesem Fall die Verantwortung der Pflegenden, ihre Würde zu schützen, ihr mögliches Objektwerden zu verhindern. Nicht ohne Grund ist es heute vor allem die Angst vor Demenz und Pflegebedürftigkeit, welche die Menschen in unseren westlichen Gesellschaften umtreibt. Diese wachsende Angst ist zugleich der Gradmesser, wie sehr das Vertrauen in die Solidarität und Fürsorge der Gesellschaft im Schwinden ist. Was gilt ihr noch meine Würde?

In der Zimmerstraße in Berlin-Mitte befindet sich das Deutsche Institut für Menschenrechte. Das vielstöckige, plattenbauartige Gebäude ist bewacht. Sieben Stockwerke fährt der Lift hinauf, der Empfang ist freundlich. Schlichte helle Räume, nüchterne Sachlichkeit, eine reich bestückte Bibliothek, hilfsbereite Mitarbeiter. 2001 wurde das Institut gegründet als unabhängige, nationale, vom Bund geförderte Einrichtung, die mit Forschung, Ausbildung und Dokumentation auch politisch-kritisch Input gibt. Direktorin ist seit 2010 die Völkerrechtlerin Beate Rudolf, die sich besonders den Fragen der Geschlechtergleichheit und Behindertenrechte, der Inklusion, widmet.

Was sind in ihren Augen die jüngsten Verbesserungen der Menschenrechtslage in Deutschland? Die Professorin nennt als Erstes die Kinderrechtskonvention: Kein Kind, kein Jugendlicher darf bei einer Abschiebung mehr inhaftiert werden. Flüchtlingskinder dürfen unabhängig von ihrem Aufenthaltsstatus die Schule besuchen (Recht auf Bildung), die Übermittlungspflicht von Jugendamt und Behörden ist aufgehoben. Würde ist immer konkret. Diese kleinen mühselig errungenen Änderungen zeigen und beweisen es. Gerade aber in diesem „Gestaltungspotenzial“ der Rechte sieht die Juristin die Chance, dass auch der Bürger sich vom bloßen Bittsteller zum mündigen, selbstbewusst fordernden Rechtsträger zu emanzipieren vermag.

„Hostis“ heißt im Lateinischen sowohl Feind wie auch Gast. Formen der Gastfreundschaft, sprich Hospitalität, haben in Mythologie, Geschichte und Kultur seit jeher eine zentrale Rolle gespielt. Immer geht es dabei um die Entschärfung einer Bedrohung, die in der Fremdheit des Anderen liegt. Indem ich diesem Fremden, diesem möglichen Feind, aber auch möglichen Freund Aufnahme gewähre, ihn beherberge und bewirte, gehe ich eine Art ungeschriebenes Bündnis mit ihm ein. Eine uralte anthropologische Erfahrung, die Menschen auf allen Ebenen des Miteinanders machen, denn immer ist, wie der Philosoph Emmanuel Lévinas einmal sagte, „nichts fremdartiger und fremder als der Andere“. Gastfreundschaft in diesem Sinn als Metapher betrachtet beginnt gewissermaßen schon hier, im Verhältnis zum Anderen, im gleichsam „gastlichen“ Anspruch, seine Würde so zu achten wie die eigene. An der Lösung der Asylfrage, die sich den Europäern mit wachsender Brisanz stellt, wird sich, so Beate Rudolf, „die Glaubwürdigkeit Europas entscheiden“. Man könnte auch sagen, seine Gastlichkeit, seine Menschlichkeit.

Marleen Stoessel

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