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Libanon: Verschleiert zwischen Kruzifixen

In einem Christen-Viertel der libanesischen Hauptstadt Beirut spazieren inzwischen verschleierte Schiiten-Frauen zwischen Kruzifixen und Madonnen- Figuren durch die Straßen. Sie suchen Zuflucht vor den Bomben.

Beirut - Dass sich überhaupt Schiiten in ein christliches Viertel trauen, gleicht im Libanon einer Sensation. Doch die geteilte Wut über die israelischen Bomben und das gemeinsame Leid ist für viele Libanesen jetzt stärker als der alte Hass auf die Anderen. Weil die Luftangriffe vor allem schiitische Viertel treffen, suchen immer mehr ihrer Bewohner in den als relativ sicher geltenden christlichen Wohngegenden Beiruts Zuflucht - und werden zum Teil herzlich aufgenommen.

Auf Initiative zweier auf Ausgleich zwischen den Bevölkerungsgruppen bedachten Aktivisten wurde in dem Christen-Viertel Karm al Seitun eine Schule in ein Flüchtlingslager für Schiiten umgewandelt. Die Zwillingsbrüder mit den programmatischen Namen Guevara und Fidel berichten von ersten Annäherungen zwischen den notgedrungen zusammengerückten Menschen. "Zuerst wollte der Besitzer eines Ladens in der Nähe der Schule die Schiiten nicht bedienen; jetzt verteilt er Eis an deren Kinder", sagt Guevara.

Im Innenhof der Schule sitzt Faten Fneisch und wartet auf bessere Zeiten. Die Schiitin kam mit ihren fünf Kindern aus dem Dorf Maarun im Südlibanon nach Beirut, nachdem Hisbollah-Chef Hassan Nasrallah seine Landsleute auf schwere Zeiten vorbereitet hatte. "Wir sind hier, weil es eine christliche Gegend ist, die Israel nicht bombardieren wird", sagt die verschleierte Frau. Israel attackiert in erster Linie die schiitischen Orte und Hisbollah-Hochburgen im Südlibanon und die schiitischen Armenviertel im Süden Beiruts. Ein Großteil Beiruts wird von Sunniten und Christen dominiert, deren Viertel weitgehend von Angriffen verschont bleiben. Auch im Süden des Libanon nehmen Christen schiitische Flüchtlinge auf, sogar Kloster öffneten ihre Pforten.

Alter Hass verblasst angesichts des gemeinsamen Leids

Auf dem Spielplatz der Flüchtlingsunterkunft malt ein schiitischer Künstler eine arabische Kalligraphie an die Wand; es soll ein Gedicht zum Dank an die Bewohner des Christenviertels werden. Gleichzeitig hängt am Schulgebäude ein Bild, das an den Hass zwischen Christen und Schiiten erinnert: Es zeigt den christlichen Ex-Präsidenten Baschir Gemayel, der 1982 bei einem Bombenanschlag getötet wurde. Während er von einigen libanesischen Christen noch immer verehrt wird, machen die Schiiten Gemayel mitverantwortlich für Massaker während des Bürgerkriegs von 1975 bis 1990. Bis heute sind die Wunden des Kriegs nicht verheilt.

"Es ist traurig, dass nur das Unglück uns vereint", sagt Labibeh Chorschid, die ebenfalls in der Schule Zuflucht fand. "Das zeigt jedoch, dass wir Menschen fähig sind, in Frieden miteinander zu leben. Nur die Politiker reißen die Gräben", sagt sie und drückt ihren zehnjährigen Sohn Tamer an sich. Der lauscht mit leuchtenden Augen gerade einer Christin, die den Flüchtlingskindern Geschichten erzählt.

So viel Harmonie erlebte die Schiitin nicht von Anfang an. Zuerst hätten die Bewohner die Moslems abfällig angeschaut und Kommentare über die Schleier der Frauen abgegeben, sagt Chorschid, die sich das erste Mal in ein christliches Viertel wagte. Inzwischen verschenkten die Christen Medikamente und böten den schiitischen Kindern warme Duschen in ihren Häusern an. Auch die andere Seite gibt sich Mühe: Ein junger Schiite, der ein Porträt von Hisbollah-Chef Nasrallah an das Schultor hängen wollte, wurde von seinen eigenen Glaubensbrüdern daran gehindert. "Wir wollen hier keine Probleme machen, wir müssen unsere Gastgeber respektieren", sagt ein anderer junger Mann.

"Noch im letzten Jahr haben wir uns gegenseitig böse Parolen zugerufen", sagt der 17-jährige Hussein Ismail mit Blick auf die Anschläge und Demonstrationen im vergangenen Jahr, die auf die Ermordung des sunnitischen Ex-Regierungschefs Rafik Hariri folgten. Ein älterer Libanese hat dazu ein altes arabisches Sprichwort parat: "Ich und mein Bruder gegen meinen Cousin, ich und mein Cousin gegen den Feind." (Von Nayla Razzouk, AFP)

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