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Libyen: Ein Jahr nach der Revolution: Im libyschen Unfrieden

„Erst der Tod Gaddafis und dann der Regen, der Himmel hat uns lieb“, sagt Masaad, der Berber. Aber er fürchtet die Anarchie, die im Land herrscht und die ihm beinahe selbst das Leben gekostet hätte. Die Entwaffnung der Milizen kommt nur schleppend voran.

An die Heckenschützen hat er sich gewöhnt, nun ist Ibrahim Masaad* zufrieden, wenn er seine Einkäufe erledigen kann, ohne dass um ihn herum geschossen wird. Im Januar fuhr er vom Markt zu seinem Haus, als Kämpfer das Feuer auf die Straße eröffneten. Eine Kugel durchschlug die Windschutzscheibe und durchlöcherte den Wagenboden zwischen seinen Beinen. „Hätte ich mich nicht so entspannt in meinen Sitz gelehnt, wäre es das wohl gewesen“, sagt er.

Masaad ist pensionierter Ingenieur, er hat in Deutschland studiert. Jetzt ist er allein mit seiner Frau in Tripolis. Die Kinder sind ins Ausland gegangen. Ein bis zwei Mal im Monat verlässt er Tripolis und fährt an Checkpoints der Milizen vorbei nach Zuwara nahe der tunesischen Grenze. Dort hat er ein Haus, das ihm mehr bedeutet als die Wohnung in der Hauptstadt. „Wir Libyer sind sehr heimatverbunden, und egal, wie lange du in Tripolis lebst, du bleibst immer einer aus Zuwara oder Misrata“, sagt er.

Entlang der Schnellstraße zur tunesischen Grenze ist Libyen grün. Es ist das Sprießen der Natur, nicht das Grün der Konterrevolution. Der Winter war ungewöhnlich feucht. „Erst der Tod Gaddafis und dann der Regen, der Himmel hat uns plötzlich lieb“, sagt Masaad. Den Diktator hat er gehasst. Denn Gaddafi hat Masaads Volk, die Berber, unterdrückt und zwangsarabisiert. Jetzt haben die Berber eine eigene Flagge und eine eigene Miliz. Kaum hat das Fahrzeug deren Checkpoint passiert, hängen überall die blau- gelb-grünen Fahnen der Berber. „Wir wollen keine Unabhängigkeit von Libyen, sondern Autonomie“, sagt Masaad. Die Araber sollen die Berber nicht mehr übervorteilen wie unter Gaddafi. Der Diktator habe das Krankenhaus von Zuwara geschlossen und eine Klinik in der arabischen Nachbarstadt Al Ajaylat aufgemacht, damit ihre Babys bei den Arabern zur Welt kämen. Die Kämpfe zwischen den Milizen aus Zuwara und Al Ajaylat nennt Masaad einen Krieg, der nichts mit der Revolution zu tun hat. „Nur gibt es jetzt überall Waffen, mit denen wir aufeinander losgehen können.“

Ein Jahr nach dem Beginn der Revolution in Libyen kommt die Entwaffnung der Milizen im Land nicht voran. In unterschiedlichen Landesteilen kämpfen bis heute bewaffnete Gruppen gegeneinander. Mustafa Abd al Dschalil, der Vorsitzende des Nationalen Übergangsrats, gestand vor wenigen Tagen ein, im Bemühen, Libyen den Milizen zu entreißen, gescheitert zu sein. Dennoch sollen am 23. Juni die ersten freien Wahlen stattfinden.

In Zuwara riecht es nach Meer und Minze. Überall wächst das Kraut, aus dem die Berber Tee brauen. Die Regale in den Geschäften sind gut gefüllt, und die Menschen sitzen am zentralen Platz von Zuwara auf Klappstühlen und rauchen Wasserpfeife. Der Krieg, von dem Masaad spricht, scheint woanders stattzufinden. Masaad hält vor seinem Haus am Strand von Zuwara. Es ist in den vergangenen Monaten vier Mal ausgeraubt worden ist. Für ihn ist die Ruhe in den Straßen seiner Heimatstadt trügerisch. Sie kann von einem Moment auf den anderen enden wie das Leben. „In der vergangenen Woche starb ein fünfjähriges Kind, weil einige Idioten Streit bekommen und gleich geschossen haben“, sagt Masaad, während er die Holzbarrikade von der Toreinfahrt wegschiebt. Das Kind war einfach zur falschen Zeit am falschen Ort.

Hinter dem Tor liegt Masaads ganzer Stolz. Ein Hof und ein dreistöckiges Haus mit Meerblick. Doch auf dem Stolz trampelten zunächst die Gaddafi-Soldaten herum, die sich während der Kämpfe im Frühjahr in den Räumen verschanzten. Nach der Befreiung kamen die Diebe. Masaad führt durch die geplünderten Räume, in denen die Schritte gespenstisch hallen. Seine Augen füllen sich mit Tränen, als er ein Buch aufhebt. „Eine Einführung in die Physik“ steht auf Deutsch auf dem Einband. „Diese verfluchte Anarchie. Wir brauchen endlich wieder eine richtige Armee und Polizei.“

Diese Armee hätte in Libyen genug zu tun. In Kufra im Süden eskalieren Kämpfe und haben nach unterschiedlichen Quellen innerhalb weniger Tage mehr als 100 Tote gefordert. Wer gegen wen kämpft, ist so unklar wie anderswo in Libyen. Doch es überwiegt im Land nach wie vor die Freude über das Ende der Gaddafi-Herrschaft. Dicke Autos drehen noch immer Runden um den Märtyrerplatz in Tripolis, die Musik laut gestellt und die Fenster offen. Als gäbe es die Schießereien gar nicht, die zu jeder Zeit und an jedem Ort ausbrechen können.

Abdulnasir Yahya aber hat das Radio leise gestellt, auch die Scheiben bleiben oben. Der Milizionär fährt einen Gast durch die unruhige Stadt: Franziska Brantner, außenpolitische Sprecherin der Grünen im Europaparlament. Ihr erklärt er, dass das Ausland die Sicherheitslage falsch wahrnehme. Die Gefechte seien in Wahrheit bloß Auseinandersetzungen zwischen Kriminellen. Die Milizen aus Tripolis, Zintan und Misrata würden den Frieden wahren. „Die Grünen spielen keine Rolle mehr“, sagt er, die Anhänger des alten Regimes. Die seien nur unzufrieden, weil sie ihre Privilegien verloren haben, nicht etwa weil sie die Rache der Sieger zu spüren bekämen. „Libyen ist frei, und jeder darf sagen, was er will, auch dass er für Gaddafi ist. Solange die Stabilität nicht gefährdet ist, sollen sie doch Muammar hochleben lassen.“

Im September 2011, einen Monat nach dem Einmarsch der Rebellen in der Hauptstadt, hat Franziska Brantner Tripolis und Misrata besucht. Jetzt ist sie zurück. Von Brüssel aus betrachtet sei das Land eine Blackbox, sagt sie. In Misrata besuchte sie ein Gefängnis für Gaddafi-Anhänger. Sie hat damals Spuren von Misshandlung entdeckt, aber auch einen Freizeitraum, in dem die früheren Feinde vor einem Fernseher eine amerikanische Seifenoper anschauten. Ein halbes Jahr später gilt Misrata als Stadt der Folter, aus der sich die Hilfsorganisation „Ärzte ohne Grenzen“ zurückgezogen hat. Weil sie Gefangene nicht wieder fit machen wolle für weitere Verhöre, sagte der belgische Sektionschef Christopher Stokes im Januar.

Am Abend trifft sich die Delegation aus Brüssel mit libyschen Regierungsvertretern und internationalen Experten im Luxushotel Corinthia. Laut Empfehlung des Auswärtigen Amtes ist das gut bewachte Hochhaus am Strand der einzige Ort, der Ausländern in Tripolis Sicherheit bietet. Die Stimmung ist gelöst. Auch Isabelle Durant, Vize-Präsidentin des EU-Parlaments, ist Teil der europäischen Delegation. Sie nennt die Milizionäre, die das Land kontrollieren, Freiheitskämpfer. Durant glaubt daran, dass im Juni in Libyen gewählt wird. Gleichzeitig ist sie skeptisch, ob die Entwaffnung der Rebellengruppen bis dahin vorankommt. „Der Übergangsrat sagt, dass es erst eine Armee geben wird, wenn die Freiheitskämpfer ihr beigetreten sind, und die Freiheitskämpfer sagen, dass es erst eine Armee geben muss, bevor sie ihre Waffen abgeben können.“ Unter diesen Bedingungen seien Wahlen ein Experiment. „Aber wir müssen uns nun mal mit der Lage zufriedengeben, die wir vorfinden.“

Franziska Brantner ist nach ihren Gesprächen mit Vertretern der Zivilgesellschaft vorsichtig optimistisch. Im Vergleich zu September sei die Präsenz der Milizen im Straßenbild von Tripolis zurückgegangen. Zum Ausmaß der Gefechte im Lande gibt es unterschiedliche Informationen, sagt Brantner. Die Grünen-Politikerin ist im Gegensatz zu anderen Kennern des Landes überzeugt, dass es im Juni Wahlen geben wird, weil allen Akteuren bewusst sei, dass sonst ein gefährliches Vakuum entsteht. Die EU müsse noch stärker diejenigen unterstützen, die sich für ein demokratisches Libyen einsetzen. Doch sie weiß, dass über die Zukunft des Landes nicht in Brüssel entschieden wird, den politischen Prozess und die Aussöhnung müssen sie selbst gestalten.

Aussöhnung heißt für Ibrahim Masaad, dass Berber, Araber und Tuareg-Nomaden einen anderen gemeinsamen Nenner finden als den Hass auf Gaddafi. Der sei ein halbes Jahr nach dem Sturz des Diktators fast schon aufgebraucht.

* Name geändert

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