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Libyen: Erbitterte Kämpfe nach der Stunde Null

Martin Gehlen hat sich nach Tripolis durchgeschlagen. Dort ist das System Gaddafi Geschichte, aber der Despot lebt: Die Kämpfe in Libyen gehen weiter.

Aus seiner linken Tasche lugt ein Ersatzmagazin für die nagelneue Kalaschnikow, die ihm um den Hals baumelt. In der rechten hat er sein iPhone mit Videos und Fotos von der „Stunde Null“ am letzten Samstag um 19 Uhr 20, als mit dem Ramadan-Fastenbrechen sich endlich auch Tripolis zum entscheidenden Sturm auf das Gaddafi-Regime erhob. Eigentlich studiert Omar Duri Zahnmedizin, seine 12-Stunden-Nachtschicht am Checkpoint an der Corniche geht am frühen Vormittag zu Ende. Und statt zu lernen, wie man Karies behandelt, bastelte er in den letzten Monaten zuhause in der Küche seiner Eltern Rohrbomben und bereitete mit Studienfreunden in Wohnungen Mini-Lazarette für verwundete Rebellen vor – alles auf der Festplatte seines Smartphones elektronisch dokumentiert. Eines seiner verwackelten Videos zeigt auch die Festnahme von zwei Scharfschützen nahe dem Grünen Platz, der eine aus dem Sudan, der andere aus dem Tschad, zwei junge, panische Gesichter, die von ihren Fängern mit „Allah ist groß“ Hochrufen vor sich her gestoßen werden.

Hunderte von Untergrundzellen hatten seit Mai die Erhebung in der libyschen Zwei-Millionen-Metropole bis ins Kleinste vorbereitet, deren Bewohner sechs Monate nach dem Aufstand im Osten immer mehr in den Ruf gerieten, regimetreu oder ganz einfach feige zu sein. Die konspirative Kommunikation lief vor allem über Walkie-Talkies, da das Regime über Gaddafis Erstgeborenen Mohammed die Handynetze fest in der Hand hatte. Durch Schmuggler sickerten Abertausende nagelneuer Schnellfeuergewehre in die Wohnviertel. Vorbei sind die Zeiten, wo die Kämpfer gutwillig und naiv im Polohemd und mit Schießprügeln aus dem Militärmuseum unterwegs waren. Die makellosen Schutzwesten, Helme und Tarnuniformen der Rebellen sind vom gleichen Typ, mit denen die USA die irakische Armee ausgerüstet hat. Viele tragen kleine Plastikkarten mit Name, Foto, Waffenkompetenz und Blutgruppe um den Hals. Die „Offiziere“ haben vier Monate Kampf- und Waffentraining hinter sich in der schon früh befreiten Bergstadt Nalut nahe der tunesischen Grenze.

„In Tripolis hat die gute militärische Ausrüstung den Ausschlag gegeben, unsere Motivation war ja sowieso stets ungebrochen“, erläutert Khaled al-Mahdi, enger Mitarbeiter des Provisorischen Nationalen Übergangsrates (NTC) im Westen des Landes, der eigentlich an der Humboldt-Universität Berlin über Lasertechnik promoviert. Als Waffenlieferanten an die Rebellen traten in erster Linie Qatar und die Vereinigten Arabischen Emirate in Erscheinung, beide enge Verbündete der Vereinigten Staaten in der Golfregion. Beim Thema Hilfen aus Ägypten und Tunesien dagegen, den beiden revolutionären Vorläufern des arabischen Frühlings, zuckt Mahdi nur stumm mit den Schultern.

Ihren Regierungssitz möchte die NTC-Führung am liebsten schon in der nächsten Woche von Bengasi nach Tripolis verlegen. Doch noch ist die libysche Hauptstadt nicht sicher, auch wenn die Rebellen die meisten Bezirke fest in der Hand haben. Die Straßen sind leergefegt, fast alle Läden geschlossen. Gaddafi-Poster hängen in Fetzen, alle paar hundert Meter liegt eine grüne Regimeflagge im Dreck. Nur wenige Neugierige wagen sich nach draußen – und wer es dennoch tut, hat zumindest eine Pistole dabei. Denn rund um die Uhr wird weiter geschossen und gestorben – auch am Tag fünf nach der Stunde Null. Die Stadt ist weiterhin voll mit Gaddafi-Treuen, die jetzt ihre Uniformen abgelegt haben und nachts aus ihren Häusern kommen, um wahllos Landsleute zu morden. Zwischen Leuchtspurmunition und Geschützsalven hallen immer wieder „Allah ist groß“-Rufe durch die Straßen. Stundenlang sind die dumpfen Explosionen der Nato-Angriffe zu hören. Hohe Rauchwolken stehen am Himmel. Am Abend lassen Bewohner nahe der historischen Altstadt ein kurzes, kleines Jubelfeuerwerk in den schwülen Nachthimmel steigen – gedacht als farbiger Vorbote eines endlich friedlichen, freien und angstlosen Lebens.

Der Landweg nach Tripolis von dem südlichen tunesischen Grenzübergang durch das Nafusa-Berge hinunter in die flache, fruchtbare Küstenebene ist gesäumt von Straßensperren. „Das Spiel ist aus“ haben die Rebellen in vielen Dörfern an ihre Hauswände gesprayt. An größeren Straßenkreuzungen stehen Wohncontainer, wo die Wachen leben und schlafen. Wenn sie nicht gerade Dienst haben, sitzen sie auf klapprigen Plastikstühlen bis tief hinein in die lauen Ramadannächte zusammen und schwatzen. Routine im Ausnahmezustand. Trotzdem sind die Shuttle-Touren von den sicheren Bergen nach Tripolis immer noch gefährlich. Am Mittwoch früh wurde eine vierköpfige italienische Journalistengruppe in dem Städtchen Zawiyah für 24 Stunden gekidnappt, ihr Fahrer auf der Stelle hingerichtet. Hier hatten die gefürchteten Elitebrigaden des Gaddafi-Sohnes Khamis ihr Hauptquartier. Die Eroberung des weitläufigen Kasernengeländes vor gut zwei Wochen war eine entscheidende Etappe auf dem Weg zum Sieg in der dreißig Kilometer entfernten Hauptstadt. Das monumentale Eingangstor des Areals liegt in Trümmern. In den Mauern gähnen große Sprenglöcher. Überall entlang der Straße zeugen ausgebrannte Läden, heruntergerissene Stromleitungen, zerschossene Panzer aber auch Berge von stinkendem Hausmüll von den Kämpfen der letzten Zeit.

Jubel und Kampf - lesen Sie mehr über die Rebellen in Tripolis auf Seite 2.

Auf dem Grünen Platz in Tripolis fahren derweil drei Rebellen die Lieblingskarosse von Hannibal Gaddafi spazieren, ein GMC vom Typ XL Denali, den schwarzen Hochglanzlack ziert jetzt ein weißes Revolutionsgraffiti. Noch einmal posieren sie vor ihrer PS-starken Beute, bevor sie mit dem Achtzylinder heulend davonrasen. Auch das Haus von Gaddafis Tochter Aischa ist nur noch eine Ruine, in einer Wohnzimmerecke der so genannten „Claudia Schiffer des Orients“ fanden die Plünderer eine vergoldete Meerjungfrau mit dem Gesicht Aischas. Aus der Strandvilla von Sohn Saadi, dem ehemaligen Profifußballer, ließen die Rebellen Ginflaschen, Dieseljeans und einen Lamborghini mitgehen. Den Golf Cart ihres langjährigen  Revolutionsführers paradierten sie feixend am Abschleppseil durch die Straßen.

Doch die eigentliche Jagd gilt jetzt dem Besitzer, Muammar Gaddafi selbst, eine Operation, an der sich vor Ort auch britische SAS-Spezialkräfte beteiligen. In seinem Hauptquartier steckt der Despot nicht mehr. Er werde kämpfen bis zum Sieg oder als Märtyrer sterben, tönte er zuletzt am Mittwochmorgen per Telefon über das staatliche Fernsehen. In seinem megalomanen Tunnel-Labyrinth unterhalb von Tripolis fanden die Rebellen nur verlassene Schlafräume, Essenvorräte für viele Woche und Gasmasken, jedoch keinen Beduinenoberst. Die Tunnel sollen bis mehrere Kilometer außerhalb der Stadtgrenzen reichen, in der Nähe des Flughafens wollen die Aufständischen einen Konvoi aus drei schwarzen Geländewagen gesichtet haben. Vielleicht ein letzter Versuch, sich mit einem kleinen Düsenjet davon zu machen. Seitdem wird auf den Startbahnen wieder gekämpft, eine Maschine der russischen Aeroflot steht wie ein trotziger Vogel mitten im Feuerhagel.

Die Straße zum Flughafen im Süden der Stadt, aber auch das Gelände um das ehemalige Hauptquartier Gaddafis sind voll mit Scharfschützen. Sie halten sich auf den Dächern umliegender Hochhäuser verschanzt und treffen mit ihren langen russischen Präzisionsgewehren auf 1000 Meter genau in Herz. „Wir fahren den ganzen Tag dorthin und suchen nach Verletzten. Oft kann niemand von uns aussteigen und die Opfer bergen, weil wir dann auch selbst getroffen würden“, sagt Mahmud al-Chady, der als Spross einer alten libyschen Notablenfamilie in Paris Wirtschaft und Verwaltung studierte, und sich jetzt – wie viele andere auch – als Helfer nützlich macht. Auf seinem Handy hat der 42-Jährige das Gesicht eines Erschossenen gespeichert, der ohne Papiere am Straßenrand lag. Er hofft, später per Internet dessen Familie ausfindig machen zu können. Offiziell gibt die Rebellenführung bisher an, bei den Kämpfen seien 400 Menschen getötet und 2000 verwundet worden. Die wirklichen Opferzahlen aber liegen vermutlich wesentlich höher. Allein Mahmud al-Chady hat in den letzten beiden Tagen mit seinem Freiwilligenteam 180 Tote ins Leichenschauhaus des Shara-Zawiyah-Krankenhauses gebracht. Vor der Notaufnahme bricht laut weinend eine Frau zusammen, deren Sohn gerade gestorben ist. Alle fünf Minuten treffen in dem heruntergekommenen Kolonialbau aus italienischer Zeit Verletzte ein – herbeigekarrt in klapprigen Taxis, aber auch luxuriösen Privatwagen. Alle haben Schusswunden von Scharfschützen. Ständig wischen Helfer mit Mundschutz die Blutlachen von der gekachelten Rampe, während drinnen im Operationssaal den Ärzten die Medikamente ausgehen.

Einer, der sich noch vor die Tür traut, ist Zuhair Marouf. Der Vater von fünf Kindern hat es sich auf einem Blumentopf in seiner schmalen Straße im Stadtteil al-Daraa bequem gemacht und strahlt. Zweimal wurde er verhaftet und wochenlang im Gefängnis gequält, „nur weil ich einen Bart trage und täglich in die Moschee zum Beten gehe“, sagt er, dem bis auf einen alle Zähne im Oberkiefer fehlen. „Wir hatten 40 Jahre Angst, doch jetzt wird es jeden Tag besser.“ Am Galgen aber will er Gaddafi nicht sehen, sondern eingesperrt bis zu seinem Lebensende.  „Wenn man ihn aufhängt, ist er schnell vergessen“, meint der 48-Jährige. „Sperrt man ihn aber lebenslänglich ein, steht er den Leuten jeden Tag abschreckend vor Augen.“

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