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Die Waffen regieren noch immer. Ehemalige Rebellen an einem Checkpoint bei der Stadt Bani Walid, einer Hochburg der Anhänger Muammar al Gaddafis. Foto:Mahmoud Turkia/AFP

© AFP

Libyen: Selbstjustiz statt Staatsaufbau

In Libyen nehmen die Übergriffe der Ex-Kämpfer auf Gaddafi-Getreue zu. Hilfsorganisationen beklagen zudem Folter in Gefängnissen.

In Tripolis gingen rivalisierende Rebellen mit Panzerfäusten und Kalaschnikows aufeinander los. In Bengasi stürmte eine aufgebrachte Menge die Büros des Nationalen Übergangsrates, warf Brandbomben und zertrümmerte die Einrichtung. UN-Menschenrechtsrat und Amnesty International (ai) prangern diese Woche das willkürliche und brutale Treiben der sogenannten Revolutionsbrigaden an. Diese Ex-Rebellen hielten auf eigene Faust tausende ehemalige Unterstützer des Gaddafi-Regimes in ihren ad-hoc-Gefängnissen fest – darunter viele Menschen aus dem südlichen Afrika.

„Ärzte ohne Grenzen“ (MSF) stellte aus Protest in Misrata seine Arbeit ein. Häftlinge würden misshandelt und ihnen dringende medizinische Versorgung verweigert, erklärte die Organisation zur Begründung. Immer häufiger seien Ärzte mit Verletzungen konfrontiert, die durch Folter verursacht wurden. „Patienten werden mitten aus Verhören zu uns gebracht. Wir sollen sie dann wieder fit machen für weitere Verhöre, das ist völlig unakzeptabel“, erklärte MSF-Chef Christopher Stokes. Nach Erkenntnissen von Amnesty wird in Libyen inzwischen wieder systematisch gefoltert – mehrere Opfer seien bereits gestorben.

Kurz vor dem ersten Jahrestag des Aufstands gegen Gaddafi am 17. Februar breiten sich in dem ölreichen Mittelmeerstaat Gewalt und Unruhe aus. Polizei und Justiz sind weitgehend unfähig und ohnmächtig. Selbst in Tripolis und Bengasi hat der Nationale Übergangsrat es bisher nicht geschafft, die Waffen einzusammeln und die Kämpfer in Armee und Polizei zu integrieren. Zwar stellte sich vor einigen Tagen die angebliche Rückeroberung der Oasenstadt Bani Walid durch Gaddafi-Getreue als Falschmeldung heraus. Doch die Gefahr eines chronischen Bürgerkriegs auf kleiner Flamme wächst. Misrata und Zintan, die Hochburgen des Widerstands in den Nafusa-Bergen, führen ein autonomes Eigenleben. Verwundete des Bürgerkrieges klagen, sie hätten immer noch keine finanzielle Unterstützung erhalten. In den Augen ihrer Kritiker tut die neue Führung viel zu wenig, um das durch acht Monate Bürgerkrieg verwüstete Land zu stabilisieren. Der Vize des Nationalen Übergangsrates, der angesehene Rechtsanwalt Abdel Hafiz Ghoga, trat letzte Woche zurück, nachdem auf dem Campus der örtlichen Ghar Yunis Universität 4000 Studenten versucht hatten, ihn zu verprügeln. Ghoga konnte in letzter Minute von seinen Leibwächtern in Sicherheit gebracht werden. Die Studenten werfen ihm vor, zu spät mit dem Gaddafi-Regime gebrochen zu haben.

Übergangspräsident Mustafa Abdul Dschalil, ehemaliger Justizminister unter Gaddafi, warnte daraufhin seine Landsleute in einer dramatischen Rede, Libyen werde „in ein Loch ohne Boden fallen“, falls der wachsenden Gewalt kein Einhalt geboten werden könne. Immer wieder hatte er in den letzten Monaten an die Bevölkerung appelliert, das Gesetz nicht in die eigene Hand zu nehmen, keine Rache zu üben und das Eigentum von ehemaligen Regimetreuen zu respektieren. Doch seine Rufe verhallen zunehmend ungehört, einmal schon bewarf ihn die aufgebrachte Menge mit Plastikflaschen und zündete seinen Dienstwagen an. Trotzdem bleibt der 59-jährige Interims-Staatschef optimistisch. „Libyen wird einen Wohlstand erleben wie noch nie zuvor“, sagte er. „Dazu aber brauchen wir die Hilfe und Unterstützung des ganzen Volkes.“

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