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Libyen wählt: Der lange Schatten Gaddafis

Die Libyer stimmen über ein neues Parlament ab - ein Schritt zur Normalisierung. Doch ist das Land tatsächlich schon auf dem Weg in die Demokratie?

Jahrzehntelang kannte Tripolis nur ein Gesicht – das von Muammar Gaddafi. Jetzt lächeln hunderte Leute von Großplakaten herab auf die Passanten. Wahlkampf in Libyen, 18 Tage sind offiziell erlaubt, am Samstag wird abgestimmt. Und mit einem Schlag verwandelten sich letzte Woche Straßen und Brücken, Hausfassaden und Supermarktfenster in ein politisches Panoptikum aus Farben, Personen, Parteinamen und Parolen. 142 Parteien sind angetreten. 3707 Kandidaten, darunter 629 Frauen, konkurrieren um die 200 Sitze in der Volksvertretung Libyens. Wochenlang hatten bereits Großposter in Tripolis und Benghasi, in Zintan und Al Baida für die Teilnahme an den ersten demokratischen Wahlen in der Geschichte des Landes geworben. Ein Arzt, ein Iman, ein schwarzer Bauarbeiter mit Helm – sie alle hielten stolz die erste Wahlkarte ihres Lebens in den Händen. Und tatsächlich, das Interesse ist enorm. 2,7 der 3,4 Millionen Wahlberechtigten haben sich registrieren lassen.

Was ist von der Wahl zu erwarten?

Die Libyer erhoffen sich von der Premiere an den Urnen einen ersten großen Schritt zur Normalisierung ihres Landes. Denn der neue Nationalrat wird nach dem Beispiel Tunesiens zunächst einen Übergangpräsidenten wählen sowie einen Premierminister samt Übergangskabinett, das den bisherigen Provisorischen Nationalrat (NTC) ablöst. Zudem wird er aus seinen Reihen eine 60-köpfige Verfassungsgebende Versammlung nominieren, die dann innerhalb von vier Monaten ein Grundgesetz für das ölreiche nordafrikanische Land ausarbeiten soll. Läuft alles nach Plan, werden in einem Jahr, im Sommer 2013, auf der Basis der neue Verfassung dann Staatschef, Parlament und Regierung für eine erste komplette Legislaturperiode gewählt. Doch bis dahin ist es noch ein weiter Weg.

Welche Probleme gibt es?

Die Schatten des Bürgerkrieges bleiben lang und unkalkulierbar. In Benghasi wurde das Büro der Hohen Wahlkommission verwüstet. Zuvor hatte es Angriffe auf das tunesische und amerikanische Konsulat gegeben, waren britische Diplomaten sowie Mitarbeiter des Internationalen Roten Kreuzes beschossen worden. Islamistische Milizen rissen Wahlplakate herunter, weil Demokratie in ihren Augen nicht mit dem Islam vereinbar ist. Andere kreuzten mit einem lärmenden Autokorso vor dem ehemaligen Hauptquartier der Aufständischen an der Corniche auf, schossen Salven in den Himmel und forderten die Einführung der Scharia, bis beherzte Bürger sie mit eilig gemalten Plakaten „Libyen ist nicht Afghanistan“ vertrieben. „Es gibt immer irgendwelche Elemente, seien es frühere Regimeanhänger, seien es demokratiefeindliche Gruppen, die die Wahlen stören wollen“, erläuterte Mahmoud Jibril, erster Übergangspremier der Rebellen bis zum Oktober 2011, der jetzt an der Spitze des säkularen Parteienbündnisses „Allianz der Nationalen Kräfte“ kandidiert. 40 000 unbewaffnete Polizisten sollen vor den Wahllokalen präsent sein, aber auch Einheiten der Armee halten sich nach Angaben der Behörden bereit. Die eigentlichen Herren auf den Straßen aber sind nach wie vor die bewaffneten Milizen.

Wie sind die Machtverhältnisse in Libyen?

Praktisch jeder Libyer hat inzwischen eine Waffe, zu jeder Zeit und an jeder Ecke kann plötzlich ein Feuergefecht ausbrechen, auch wenn das Leben in den beiden urbanen Küstenzentren Benghasi und Tripolis größtenteils ruhig verläuft. Dafür halten blutige Kämpfe im Süden und Westen des Landes die Öffentlichkeit in Atem. In der Region von Zintan in den Nafusa-Bergen, wo eine der mächtigsten Revolutionsbrigaden ihren Sitz hat, brach im Juni ein Konflikt zwischen verfeindeten Stämmen aus, der mehr als 100 Menschen das Leben kostete. In der westlichen Oasenstadt Ghadames, die zum Unesco-Weltkulturerbe gehört, gerieten Araber und Tuaregs aneinander. Im südlichen Kufra, wo 40 000 Menschen leben, kämpfen seit Monaten Araber gegen Afrikaner sowie Revolutionäre gegen Anhänger des alten Regimes. Ganze Wohnviertel wurden unter Feuer genommen. Zuletzt starben im Juni 50 Menschen, im Februar hatten bei ähnlichen Zusammenstößen bereits über 100 Bewohner ihr Leben gelassen.

Und so warnte Amnesty International kürzlich in einem dramatischen Appell, die bewaffneten Gruppen könnten den fragilen Übergangsprozess komplett zerstören. „Es ist sehr niederschmetternd zu sehen, dass es der Regierung auch nach so vielen Monaten nicht gelungen ist, den Würgegriff der Milizen zu brechen“, beklagte die Menschenrechtsorganisation. Wenn aber Gesetzlosigkeit und Übergriffe nicht bald gestoppt würden, „besteht die Gefahr, dass Libyen wieder dieselben Muster an Missbräuchen entwickelt, die wir bereits in den vergangenen vier Jahrzehnten erleben mussten“.

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